Ist die Reformpädagogik kinder- und jugendgefährdend?

Die Reformpädagogik-Diskussion muss aufgenommen werden

Nicht nur die katholische Kirche ist unter Druck geraten. Sondern auch die Reformpädagogik. Das mit der ersteren etwas nicht stimmen konnte, wussten oder ahnten wir seit Jahren. Gehörte aber die Reformpädagogik nicht auf die Seite der Guten? Hoffnung derjenigen, die auf Emanzipation setzten? War Hartmut von Hentig nicht Garant und Leuchtturm einer humanen Grundlage der Pädagogik? Und sprach er nicht auch vielen Psychologinnen und Psychologen aus dem Herzen, die der Überzeugung waren und sind, dass sich Persönlichkeitsentwicklung und andere Ideale einer emanzipatorischen Psychologie sich in einer reformierten Pädagogik umsetzen ließen?

Und dann das: Aus Schulen der Reformpädagogik wird uns berichtet, dass der ehemalige Leiter der Odenwaldschule und sterbenskranke Lebensgefährte von Hartmut von Hentig, ihm, dem Schulleiter  anvertraute Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht habe. Aus anderen Schulen wird Ähnliches berichtet. Was ist da falsch gelaufen? Und wo waren »wir« unkritisch und vielleicht geradezu besoffen ob der Eloquenz dieser oder jener Reformpädagogen und -pädagoginnen? Immerhin ist nicht auszuschließen, dass eine emanzipatorische Pädagogik und Psychologie auf lange Sicht in Argumentationsnöte kommt. Wie kann sie in Zukunft von Persönlichkeitsentwicklung und Bildung sprechen, wo doch aus einer ihrer Quellen so viel Gift fließt?

Ein Schwachpunkt dürfte sein, dass die Begriffe Bindung, Beziehung, Kontakt nicht genügend konkretisiert sind, es wurde nicht ausreichend auf Standards geachtet, die verdeutlichen, dass sie angefüllt sein müssen mit berufsmäßigen Standards einer guten Fachlichkeit. Sie hätten Bestandteil eines Berufsethos zu sein, in dem Transparenz und Reflexion so verankert sind, dass niemand in der Lage wäre, sie zu ignorieren, wollte er nicht das Risiko eingehen, sich zu disqualifizieren .

Helmut Johnson schrieb 2006 in einem Aufsatz »Bindungsstörungen« (Johnson: Bindungsstörungen), in dem er sehr deutlich machte, dass Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung ohne Bindung und Beziehung undenkbar seien, dass diese Bindungen und Beziehungen aber niemals intim und privat sein dürften. Vielmehr hätten sie Gegenstand der Reflexion im Rahmen der beruflichen Kontrolle zu sein.

Gerade aber die Bindungsunsicherheit vieler Kinder und Jugendlicher ist der Angriffspunkt des Täters oder der Täterin, die ihr fehlendes Zutrauen zu sich selbst, ihre psychosexuelle Entwicklungshemmung und ihre eingeschränkte Beziehungsfähigkeit durch ihre Machtposition kompensieren. Sie sind nicht erwachsen. Mit einer verquasten Überhöhung der Beziehung wird die eigene Schwäche und die eigene Machtausübung verschleiert. Wo es keine beruflichen Standards gibt, mag auch dem professionellen Mitarbeiter und nicht nur dem bedrohten Kind der Atem stocken.

In Teilen der reformpädagogischen Praxis war es offensichtlich so, dass Bindung und Beziehung geradezu intim und privat gerieten und mit einer Aura des Göttlichen, nicht Nachvollziehbaren überhöht und aufgeladen waren. Sie waren esoterisch (Geheimwissenschaft), einer Kommunikation und Überprüfung entzogen. Und das sollte womöglich noch ihre besondere Werthaltigkeit unterstreichen. In einem solchen Klima ist dann die Machtausübung um so leichter möglich.

Micha Brumlik weist darauf hin Brumlik: Von Athen in den Odenwald, dass eine Quelle der Reformpädagogik eine weltabgewandte, Romantisierei ist. Sie suchte ihr Heil in einer Flucht aus der Rationalität ins Geheimnisvolle. Die Bedrohungen des industriellen Zeitalters wurden nicht politisch und demokratisch angegangen, sondern mit der Erschaffung von Gegen- und Eigenwelten, durchaus mit dem Charakter der Sektenhaftigkeit. Nicht zuletzt daraus resultierten Nähe zu reaktionären und faschistischen Denkweisen.

Diesem Teil der Reformpädagogik (wie auch ein weit verbreitetes diffuses, pädagogisches Denken) ist eine Politik- und Demokratieferne eigen. Persönlichkeitsentwicklung und Lernen als politisches und demokratisches Ereignis zu begreifen und zu organisieren ist der esoterischen Auffassung von Erziehung und Lernen fremd. Wenn jedoch den Kindern und Jugendlichen Politik und Demokratie vorenthalten werden, werden ihnen auch Werkzeuge der Selbstbestimmung, der Selbsterkenntnis, des Eingreifens und der Artikulation vorenthalten. In einer Schule, die das abtut – aus weltanschaulischen, idealisierenden, »höheren« Beweggründen oder aus Gründen der angeblichen Effizienz und notwendigen Kompatibilität mit wirtschaftlichen Sachzwängen – gedeihen Ohnmacht und Macht. Eine Schule, in der das politische Lernen zugunsten des sozialen Lernens verdrängt wird hilft den Tätern und nicht den potenziellen Opfern. Eingreifendes Lernen (taz-Artikel Politisches Lernen) ist die Ausnahme. Die Regel ist die Anpassung, die Beschämung und die Angst.

Ganz anderer Natur und Herkunft ist dagegen eine Pädagogik Janusz Korczaks. (janusz-korczak) Er forderte »das Recht des Kindes auf Achtung«. Oder auch der von Montessori oder von John Dewey. Autoren, die es verdient hätten, in diesen Zeiten rezpiert zu werden. Es könnte sein, dass eine emanzipatorische Pädagogik und Psychologie sie brauchen.

Weitere Links: Sophinette Becker, Leitende Psychologin der sexualmedizinischen Ambulanz der Goethe-Universität

Georg Seeßlen zur alten und neuen Machtpolitik

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