Polarisierende Wirkung der Pandemie auf junge Generation

Kontexte der Schulpsychologie und Schule

Vielleicht interessiert es jemanden: Christoph Butterwegge hat eine neues Buch geschrieben: Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona. Weinheim: Beltz juventa, 250 S., 19,95 Euro. Vielleicht eine Hilfe dabei, Lebenssituationen besser in die Beratungsarbeit einfließen zu lassen. Die Breite und Tiefe der Pandemie-Wirkungen ist immens. Vielleicht ist das Buch auch eine Hilfe dabei, berufs- und allgemeinpolitische Forderungen besser zu verknüpfen. Und den Humanisierungsanspruch der Psychologinnen und Psychologen politischer zu fassen.

„Reinlesen“ kann man hier. Zu den sozialpolitischen Verwerfungen, Einkommensgewinnen und -verlusten schreibt Butterwegge hier. Und über den Aspekt der Gesundheitsversorgung kann man hier etwas von ihm lesen.

Die Entkernung des Solidaritätsbegriffs

Misstrauen als neue Lebensweise?

Dass die Coronamaßnahmen der Politik mit der Art ihrer Begründung – mit der Ausblendung kritischer Stimmen, mit methodischen und methodologischen Unzulänglichkeiten der Datenerhebung, die keiner Reparatur unterzogen werden – die Grundlagen der Republik und unseres Zusammenlebens in Richtung Obrigkeitsstaat und Demokratieabbau verschieben, kann kaum mehr bezweifelt werden. Andererseits – aber auch zu dieser Entwicklung passend – haben es Stimmen schwer, überhaupt Gehör zu finden, die auf die möglichen Folgen dieser Verdrehungen hinweisen.

Angsterzeugung

Eine besonders perfide Strategie scheint jene systematischer Angsterzeugung zu sein, gekoppelt mit Propaganda von Werbefilmchen. Dagegen meldet sich Matthias Rudlof (Institut für ganzheitliche Entwicklung und Bewusstsein) zu Wort. Unter anderem kritisiert er eine neue Normalität der sozialen Distanzierung, der Furcht vor Mitmenschen und vor Krankheiten. Der Solidaritätsbegriff werde seines traditionellen Inhalts beraubt und einem Herrschaftsinteresse einverleibt:

Wahre Solidarität bedeutete in der Geschichte immer das beherzte Engagement von Menschen für Menschen und die Überwindung sozialer Ungleichheit durch Herrschaftskritik. Nun soll Solidarität im Kriegsnarrativ des harten gemeinschaftlichen „Kampfes gegen den Virus“ bedeuten, sich ohne kritischen Widerspruch mit der Weltsicht der Herrschenden und ihren Coronamaßnahmen zu identifizieren.

Folgen der Corona-Politik

Wir wissen wenig über die Folgen der Corona-Politik. Und ganz düster wird es, wenn wir die Systematik der Vor-Corona-Politik und der akatuellen Politik betrachten. Die aus dieser Systematik entstehenden „Lösungen“ sind nicht selten Lösungen, die schon in der Vergangenheit Lern-, Bildungs- und Sozialprobleme erzeugten. (Den schönfärberischen und verschleiernden Begriff der „Herausforderungen“ erspare ich mir hier.) Auf einer erhöhten Eskalationsstufe werden es wieder einmal die armen und die Mittel-Schichten sein, die einen hohen Preis bezahlen werden – aller Reden von Solidarität zum Trotz. Nachzulesen hier.

Kritik der Digitalisierung

Digitalisierung ist die neue Globalisierung.

Beide sollen uns die Erlösung von den Übeln bringen. Bis dann wieder die nächste Ernüchterung kommt. Beschönigend wird gelegentlich von Chancen und Risiken gesprochen, um sich „offen“ zu zeigen und verantwortungsbewusst. Tatsächlich aber wird an allen politischen und kommerziellen Schrauben gedreht, um die Gestalt der Digitalisierung durchzusetzen, die wir seit Jahren erfahren und das in wachsender Geschwindigkeit: Bindung an Konzerne, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen, die – vereint mit sogenannt fortschrittlichen und modernen Politikerinnen und Politikern – Menschen als Datenlieferanten betrachten und sie dafür immer umfassender überwachen.

Was in den Verlautbarungen aus Medien, Politik und Wirtschaft, die eher Werbefeldzüge und Propaganda sind, fehlt, sind tatsächliche und vermutliche Auswirkungen auf die digitalisierten Charaktere und auf die Persönlichkeitentwicklung. Davon bekommt man einen (Vor-) Geschmack, wenn man ein neues Buch von Marie-Luise Wolff liest. Hier kann man einen Auszug lesen.

Dazu kommt ein anderer gewissermaßen lebenswichtiger Punkt: Das gemeinsame Entwickeln von Lösungen wird immer schwieriger, da Menschen die Empathie füreinander verlieren. Wenn jedoch immer weniger Menschen noch die Geduld aufbringen, ihren Gesprächspartnern zuzuhören und zu warten, bis sie ausgeredet haben, dann wird ein gemeinsames Leben und Arbeiten an ein Ende kommen.

Danach wird man sich wohl nicht die beschwichtigende Phrase, dass alles seine guten und schlechten Seiten habe, vorsagen können. Eher stehen wir wohl vor der Frage, ob wir uns damit befassen wollen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. In einer kapitalistischen Kommerzgesellschaft wird das, was man früher unter einer humanistisch gebildeten Persönlichkeit verstehen mochte, keine Chance haben. Wo sind die Stimmen der Gewerkschaften und Berufsverbände? Hatten sie sich nicht einmal der Humanisierung verschrieben?

Kann Moral in der Arbeitswelt einen Platz haben?

Eine Buchbesprechung

Michael Andrick: Erfolgsleere, Philosophie für die Arbeitswelt, Verlag Karl Alber Freiburg/München, 2020. 206 Seiten, 15 EUR

Wir lassen uns am Nachdenken hindern

Michael Andrick beginnt mit einer einfachen Frage, die sich vermutlich schon viele von uns gestellt haben. Wie ist es möglich, dass viele Menschen Zweifel daran haben, dass ihr berufliches und ihr gesellschaftliches Handeln einen Beitrag zur Verbesserung der Welt liefern könnten? Dabei ist es doch so, dass viele Menschen mit den besten Absichten „starten“. Wie ist es möglich, dass unsere Lebensführung nicht geeignet ist, Einfluss auf den Lauf der Welt zu nehmen?
Es gibt nicht wenige markante Worte und Zeilen in Michael Andricks Buch, die einen innehalten lassen können. Einige davon sollen hier wiedergegeben werden. Vorab lässt sich sagen: Wir, jeder Einzelne, hat sich – so Andricks These – in seinem Nachdenken behindern lassen und somit auch in seinem Handeln. Damit wir mit uns „eins“ sein können, müssen wir jedoch willens und fähig sein, nachzudenken (Denken ist in Andricks Konzept nicht ausreichend, ebenso wenig wie Tun. Sie sind Ausdruck von Fremdbestimmung und Gedankenlosigkeit.)

Selbstaufgabe unserer Moralität

Unsere Moralität ist uns abhandengekommen, wir haben sie uns „abkaufen“ lassen. Wir haben dafür etwas (siehe weiter unten) bekommen, was vergiftet ist. Sicherheit und Zugehörigkeit haben wir für die Selbstaufgabe unserer Moralität bekommen. Wir finden das in der Regel beschämend, müssen aber dieses Resultat unseres Handelns angesichts der Normen von Ehre und Ansehen von uns und von anderen fernhalten – ein versteckter Hinweis auf andere mögliche Normen, oder eine Erinnerung an sie, könnte man hoffend meinen. Denkbar aber scheint auch, dass die Entwöhnung vom Nachdenken so weit „gelungen“ ist, dass auch Restskrupel nicht mehr den institutionalisierten Gang der Dinge stören können.
Nun waren die Menschen vergangener Jahrhunderte nicht unbedingt moralischer, schreibt Michael Andrick. Vielmehr befanden sie sich in einer anderen Wertewelt, sodass sich ihnen die Notwendigkeit, zwischen verschiedenen Werten abzuwägen und sich zu entscheiden, gar nicht stellte. Mit der „neuen Zeit“, die Michael Andrick als Industriegesellschaft bezeichnet, hatten „wir“ zwar (durch die Epoche der Aufklärung) das Fragen gelernt und die Rationalität zu einer Grundlage des Selbstverständnisses der Epoche gemacht. Gleichzeitig stieß sich das aber mit den (aus Rationalitätsgründen der Aufklärung) geschaffenen Institutionen, die je einen begrenzten Zweck zu erfüllen haben – und gleichsam nichts voneinander wissen oder miteinander zu tun haben.

Weiterlesen „Kann Moral in der Arbeitswelt einen Platz haben?“

Corona deckt alte Schwachstellen des Schulystems auf

Jetzt soll es losgehen mit der Schule – früher oder später. Oder vielleicht doch nicht?

Der häufig marode Zustand von Schulgebäuden, die unterfinanzierten Schulverwaltungen in Städten und Kreisen lassen erahnen, dass die ersehnte Rückkehr zur Normalität noch lange auf sich warten lassen könnte. Nicht nur das zur Ökonomisierung und Kommerzialisierung freigegebene Gesundheitswesen, auch das über viele Jahre schlank (?) gesparte (?) Schulwesen können die Anforderungen nicht verkraften.

Ein Interview des Deutschlandfunks.

Psychologen zur "Coronakrise"

Die Mainstream- und Qualitätsmedien sind sehr damit beschäftigt, uns auf den Kurs der Regierung(en) einzuschwören. (Selbst-) Disziplinierung und Folgsamkeit sollen der Weg sein, der zur Rettung führen soll. Analyse und Kritik sind in der (selbst mit hergestellten) Not nicht angesagt. Rubikon hat in den letzten Tagen einige Aufstätze von Psychologen veröffentlicht, die das bekannte Spektrum des Gesagten und Gesollten um Nachdenkenswertes erweitern.

So schreibt Andreas Peglau, wie sich mit Erich Fromm die augenblickliche Lage auch psychologisch und psychoanalytisch analysieren lässt

Denn sollten sogar diese nicht mehr gelten, bliebe nur eines: Wir müssten selbst denken, urteilen und entscheiden, uns möglichst umfassend und tiefgründig informieren, zwischen konträren Darstellungen abwägen, Spannungen und Wissenslücken aushalten, uns mit anderen auf Augenhöhe austauschen, kritische Fragen stellen – auch an „Experten“. Wir müssten möglicherweise sogar Widerstand leisten gegen etwas, das „von oben“ kommt.

Klaus-Jürgen Bruder schreibt über den Diskurs der Macht, der gerade auch in Corona-Zeiten nicht stillgestellt ist und das Potenzial hat, uns zu korrumpieren.

Wir denken nur noch: Wie schütze ich mich? Wie sorge ich vor, verbunden mit der Hoffnung, es wird bald vorbei sein – wir denken nicht mehr an anderes, was vorher wichtig gewesen war: die Wirkung der Ablenkung – von dem, was diese „Krise“ erst möglich gemacht hat. Das Gesundheitswesen war nicht darauf vorbereitet, keine ausreichende Vorsorge an medizinischen Schutzmitteln, durch „Sparpolitik“ verursachter Mangel an Personal und Kliniken. Die Panik des Kaninchens angesichts der unvorhersehbar aufgetauchten Schlange.

Georg Lind schreibt über Panik.

Ein altbewährtes, wirksames Gegenmittel gegen pathologische Panik ist und bleibt mit Immanuel Kant:

Sapere aude! Wage zu denken!

101 Jahre Weimarer Schulkompromiss

Interessante Entwicklungslinien von 1919 bis in die 2020er Jahre

Vor einigen Tagen machte sich ein Kollege »Gedanken zum Schulsystem in Deutschland«. Seine Hauptthemen waren einige Inkonsistenzen der Schule zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die sich subversiv störend und irritierend auf Lernen und Unterrichten auswirken. Es lohnte sich, darüber eine Debatte zu führen. Ich will hier nur einen Aspekt herausgreifen.

Das derzeitige Schulsystem basiert im Wesentlichen auf preußischen Denk- und Organisationsstrukturen. In gut gemeinter Absicht wurde 1919 die allgemeine Schulpflicht durch die Weimarer Verfassung eingeführt, was damals eine sozialpolitisch wegweisende Entscheidung gewesen ist. Beibehalten wurden hingegen die „preußischen“ Organisationsstrukturen, die autoritär und streng hierarchisch waren. Sie basieren vor allem auf dem Prinzip von Befehl bzw. Anweisung (vgl. Gesetze, Erlasse) und Gehorsam bzw. Umsetzung.

In der Tat wurden 1919 die Weichen für ein Schulsystem gestellt, das wir in wesentlichen Zügen noch heute haben und das uns immer noch zu schaffen macht.

Wie ist das möglich nach zwei Weltkriegen, die eng mit einem reaktionären, nationalistischen und militaristischen Vorlauf verknüpft waren? Und wie ist es möglich, dass im Schul- und Bildungssystem sich undemokratische, integrations- und partizipationsfeindliche Strukturen und Traditionen nach diesen Erfahrungen halten konnten?

Weiterlesen „101 Jahre Weimarer Schulkompromiss“

Blick in die unteren Klassen

Wovon reden wir, wenn wir von den bildungsfernen Schichten reden? Wenn wir etwas von ihnen verstehen, was bleibt übrig, wenn wir damit beschäftigt sind, Schülerinnen und Schüler in die bestehende Ordnung hineinzuprozessieren?

Hier eine kleine Presseschau

Der Stolz der Arbeiterklasse

Das Existenzminimum ist ein Minimum ist ein Minimum

Die Grenzen der Freiheit

Die sozial geformte Individualisierung

Französische Kulturschaffende auf der Seite der Gelbwesten

Meinungsbekundung mit Risiken

Ich verlinke auf diesen Artikel, weil er bei dem einen oder anderen helfen mag, die Gelbwesten nicht länger als gewaltbereite rechtgestrickte Horde zu sehen. Es gehört zur Normalität der hiesigen Kultur- und Medienszene, sich für „Europa“ stark zu machen, gegen Putin und Trump zu sein, aber von den sozialen und menschenrechtlichen Problemen zu schweigen, die hierzulande zu nennen wären; nicht jede’r kann und mag die Abwesenheit wirtschaftlicher Sicherhheit, die steigenden Mieten, die Lohndrückereien, die Zementierung der Herkunft als Voraussetzung für Bildungserfolg als Impuls für kreative Lösungen sehen.

Indirekt und offen beteiligen sich die „Pro-Europäer“ daran, die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ – egal, wie erfolreich oder erfolglos sie am Ende sein mag – verächtlich zu machen. Dafür wird eine erstaunliche intellektuelle Schärfe aufgebracht. Dieses Rudelverhalten strahlt auf Schule und Bildung aus und verstärkt die Neigung, in dieser Institution Anpassung zu produzieren, statt Analyse, Aufklärung, Urteilskraft und Emanzipation.

Dass es auch anders gehen kann zeigt der Aufruf zahlreicher Kulturschaffenden in Frankreich. Eine Ermutigung und ein Beispiel dafür, dass es möglich sein kann, Bevölkerungsgruppen vor Diffamierung zu schützen. Mindestens, den Versuch zu unternehmen. Ein Versuch, der die Unterzeichner’innen vielleicht Aufträge kosten kann, wenn sie auf schwarze Listen der Kulturindustrie geraten.