Kann Moral in der Arbeitswelt einen Platz haben?

Eine Buchbesprechung

Michael Andrick: Erfolgsleere, Philosophie für die Arbeitswelt, Verlag Karl Alber Freiburg/München, 2020. 206 Seiten, 15 EUR

Wir lassen uns am Nachdenken hindern

Michael Andrick beginnt mit einer einfachen Frage, die sich vermutlich schon viele von uns gestellt haben. Wie ist es möglich, dass viele Menschen Zweifel daran haben, dass ihr berufliches und ihr gesellschaftliches Handeln einen Beitrag zur Verbesserung der Welt liefern könnten? Dabei ist es doch so, dass viele Menschen mit den besten Absichten „starten“. Wie ist es möglich, dass unsere Lebensführung nicht geeignet ist, Einfluss auf den Lauf der Welt zu nehmen?
Es gibt nicht wenige markante Worte und Zeilen in Michael Andricks Buch, die einen innehalten lassen können. Einige davon sollen hier wiedergegeben werden. Vorab lässt sich sagen: Wir, jeder Einzelne, hat sich – so Andricks These – in seinem Nachdenken behindern lassen und somit auch in seinem Handeln. Damit wir mit uns „eins“ sein können, müssen wir jedoch willens und fähig sein, nachzudenken (Denken ist in Andricks Konzept nicht ausreichend, ebenso wenig wie Tun. Sie sind Ausdruck von Fremdbestimmung und Gedankenlosigkeit.)

Selbstaufgabe unserer Moralität

Unsere Moralität ist uns abhandengekommen, wir haben sie uns „abkaufen“ lassen. Wir haben dafür etwas (siehe weiter unten) bekommen, was vergiftet ist. Sicherheit und Zugehörigkeit haben wir für die Selbstaufgabe unserer Moralität bekommen. Wir finden das in der Regel beschämend, müssen aber dieses Resultat unseres Handelns angesichts der Normen von Ehre und Ansehen von uns und von anderen fernhalten – ein versteckter Hinweis auf andere mögliche Normen, oder eine Erinnerung an sie, könnte man hoffend meinen. Denkbar aber scheint auch, dass die Entwöhnung vom Nachdenken so weit „gelungen“ ist, dass auch Restskrupel nicht mehr den institutionalisierten Gang der Dinge stören können.
Nun waren die Menschen vergangener Jahrhunderte nicht unbedingt moralischer, schreibt Michael Andrick. Vielmehr befanden sie sich in einer anderen Wertewelt, sodass sich ihnen die Notwendigkeit, zwischen verschiedenen Werten abzuwägen und sich zu entscheiden, gar nicht stellte. Mit der „neuen Zeit“, die Michael Andrick als Industriegesellschaft bezeichnet, hatten „wir“ zwar (durch die Epoche der Aufklärung) das Fragen gelernt und die Rationalität zu einer Grundlage des Selbstverständnisses der Epoche gemacht. Gleichzeitig stieß sich das aber mit den (aus Rationalitätsgründen der Aufklärung) geschaffenen Institutionen, die je einen begrenzten Zweck zu erfüllen haben – und gleichsam nichts voneinander wissen oder miteinander zu tun haben.

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Erziehung als Mittel der Verdinglichung

Ein vielversprechendes Buch ist vor Kurzem auf den Markt gekommen. Manche Zeile klingt drastisch.

Für den gewünschten Output wurde die herzustellende Ware im Fortgang des bio-logischen Wachstums vermessen, gesellschaftlich kontrolliert und, wenn nötig, aus-sortiert und im schlimmsten Falle zur Mangel- oder Fehlerware abgestempelt, aus dem Handel genommen und »verramscht«. Sein gesellschaftlicher Marktwert taxiert sich nach bestandener Qualitätsprüfung. Diese erfolgt, den Gesetzen des neoliberalen Marktes folgend, in standardisierter und objektivierter Form. Ziel der Herstellung ist das »normale Kind«.

Das passt so gar nicht zum Sound der Bildungspolitik und dazu, was viele sich wünschen zu sein, wenn sie erzieherisch oder beratend aktiv sein wollen. Die Gedanken der Autorin könnten aber geeignet sein, uns die Augen zu öffnen. Man könnte einen Zusammenhang herstellen: Je mehr vermessen, kategorisiert – also diskriminiert – wird, um so heftiger und rauschhafter wird die Rede von der Inklusivität geführt. Sabine Seichter hat das Buch »Das ›normale‹ Kind« geschrieben. Hier gibt es eine Leseprobe.

Respekt vor Persönlichkeit oder Klassifizierung?

Unzulänglichkeiten der Typisierungskataloge von ICD und DSM

Das hier zur Debatte stehende Thema ist wahrhaftig nicht nur eines der Psychiatrie, sondern auch der Psychologie und psychologisch fundierter Beratung. Psychologie in Schule und Gesundheitswesen und anderen Einrichtungen steht unter dem Druck, sich für die geforderten Anpassungsaufgaben als nützlich zu erweisen. Sie gibt dafür in Ausbildung und Praxis der Illusion nach, menschliches Verhalten ließe sich vermessen. Sie gibt der Illusion nach (und sie verstärkt sie), typ- und symptomgerecht − also industrialisiert und kostengünstig  − die geforderte Leistung erbringen zu können. Zum Schaden der Empfänger von Hilfe, der Professionellen selbst und der beteiligten Professionen.

Der Psychiater Norbert Andersch schreibt hier in einem Artikel der jungen welt, welche Probleme aus der reduktionistischen ICD, DSM,Evidenzbasierungs-Logik entstehen. Und er macht Vorschläge, welche Richtung Psychiatrie und Psychologie einschlagen könnten, damit die Dinge besser werden. Wer sich weiter damit befassen möchte, findet wohl hier weiteren Aufschluss.

 

Nur wenige junge Psychiater, Neurologen und Psychologen haben noch Zeit und Lust, die Vereinnahmung in einen industrialisierten Medizinbetrieb zu hinterfragen. Aufgewachsen in der scheinbar verifizierbaren Welt evidenzbasierter Psychiatrie, und widerstandslos adaptiert an das »Processing« ihrer Patienten durch standardisierte Behandlungsschritte toleriert die große Mehrheit die Schubladendiagnosen der Klassifikationssysteme und deren philosophische Grundierung durch eine phänomenologische Psychopathologie, vermittelt diese doch zumindest auf dem Papier den Eindruck, der einzelne Patient werde gehört und seine Individualität bestimme den Gang der Therapie – auch wenn jeder Mitarbeiter psychiatrischer Einrichtungen weiß, dass das pure Fiktion ist.

Hilfreich für das wirkliche Verständnis der komplizierten Kommunikationsstörungen, die psychischen Erkrankungen zugrundeliegen, wäre ein tätigkeits- und gestaltorientiertes Modell, das als interaktive, muster- und symbolbasierte Matrix menschlicher Bewusstheit verstanden werden sollte.

 

Leseempfehlung: Verstehen nach Zahlen?

Vor einiger Zeit habe ich hier  auf das Buch »Neoliberale Identitäten« mit interessanten Texten hingewiesen. Ein Artikel scheint mir für den pädagogischen, schulpsychologischen und beraterischen Bereich sehr treffend, auch wenn er sich mit dem Arbeitsfeld der Psychotherapie befasst. Strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Schul- und Schulberatungsbereich sind offensichtlich.

Der Titel (»Verstehen nach Zahlen?«) weist auf ein Grundproblem der Psychotherapie – und eben auch pädagogischer und psychosozialer Arbeitsfelder – hin. Sie sollen sich nach dem Vorbild mechanistischer und industrialisierter Modelle rational und zweckorientiert, also ökonomisch effizient formieren (lassen). Giovanni Maio beschreibt prägnant und sprachmächtig, wohin das führt: zu einer Dehumanisierung der Patienten/Klienten/Schüler/Professionen. Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung, Autonomie, Mitgefühl sind auf diesem Weg der vermeintlichen Effizienzsteigerung nicht zu erreichen. Das Gegenteil ist zu befürchten. Die seelischen und sozialen Schäden werden zunehmen und die Aussichten auf individuellen und gesellschaftlichten Zusammenhalt schwinden dahin. Weiterlesen „Leseempfehlung: Verstehen nach Zahlen?“

Literaturhinweise für den aufgeweckten Berater und die aufgeweckte Beraterin

Hier wurden schon mehrfach die

Beiträge der »Gesellschaft für Bildung und Wissen«

(siehe Linkliste rechts) erwähnt. Nun haben einige ihrer Mitglieder Beiträge in einem Buch zusammengefasst: Weniger ist weniger. Der stellvertretende Geschäftsführer der Gesellschaft hier in einem Interview

Nicht minder bedeutsam scheint mir das neue Buch von Katharina Gröning.

Sie befasst sich mit der merkwürdigen Situation, dass seit vielen Jahrzehnten sich Beratung in nichtklinischen Zusammenhängen mehr oder weniger stark einer therapeutischen Orientierung bedient. Ich vermute, dass das einer der Gründe für die relative Schwäche von Beratung, für eine Schwäche der „Community“ ist und zu einer Schwächung des Ansehens von Beratung durch die „haltenden“ Institutionen beiträgt. Katharina Gröning stellt dem eine Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit“ gegenüber.

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Für psychoanalytisch orientierte Berater/innen

und für solche, die sich mit den Wirkungen von Vorgaben und Richtlinien auf die Praxis befassen wollen, könnte Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse? Eine kritische Bilanz nach 50 Jahren Richtlinien-Psychotherapie von Interesse sein.

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Der Zusammenhang von Psyche und Ökonomie

wird in dem von Almuth Bruder-Bezzel, Klaus-Jürgen Bruder, Karsten Münch herausgegebenen Buch »Neoliberale Identitäten der Einfluss der Ökonomisierung auf die Psyche« erörtert.

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Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit

dürfte uns nicht unbekannt sein. Carlo Strenger macht sie zum Thema

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Wie werden Gefühle wahrgenommen,

und wie trägt eine spezielle Abtrennung von Wahrnehmung und Handeln zu einer Lähmung bei? Franz Witsch: Die Politisierung des Bürgers, 4.Teil: Theorie der Gefühle, Beiträge zur Wahrnehmung und Produktion sozialer Strukturen gibt Aufschluss.

Das war das Leseprogramm für den Rest des Jahres.

Schulentwicklung gescheitert!

Einem Kollegen aus NRW verdanke ich den Hinweis auf ein sehr interessantes und wie ich finde, wichtiges Buch. Schon 2013 erschien das Buch »Schulentwicklung gescheitert!« von Jörg Schlee. Die angekündigten Themen erinnerten mich an Auseinandersetzungen, die mehr als 20 Jahre zurückliegen. Es waren Auseinandersetzungen, die mir in einer Deutlichkeit wie nie zuvor zeigten, dass es bei der Verbesserung von Schule – die Deutungsmöglichkeiten sind zahlreich – nicht um Austausch, Klärung und Argumente gehen muss. Eine Erfahrung damals: Es gibt Personen, die wirksame Hebel für die Durchsetzung ihrer Interessen und Konzepte haben und die dafür nicht auf Dialog und Debatte angewiesen sind.  Weiterlesen „Schulentwicklung gescheitert!“

Historisches aus der Schulpsychologie

Auf der Website schulpsychologie.de lässt sich die Geschichte der Schulpsychologie nachzeichnen. Unter anderem lassen sich dort die Diskussionen um den Paradigmenwechsel der Schulpsychologie lesen. In einer Broschüre zu 75 Jahren Schulpsychologie berichten verschiedene Vertreter der Schulpsychologie über die Gründungsgeschichte(n) der Schulpsychologie. Lesenswert.

„Ein Land – drei Generationen“. Eine Rezension

Helmut Becker-Behn hat gelesen, ist beeindruckt – und er berichtet davon. Es geht um das Buch
„Ein Land – drei Generationen“ von Wolfgang Schmidbauer aus dem Jahre 2009.

„Mir geht es sowohl um die Geschichte der Bundesrepublik, wie um die Dynamik deutscher Familien. Wenn es mir gelingt, die Aufmerksamkeit für das Ineinandergreifen von historischem Einfluss und prägender Beziehungsdynamik zu schärfen, vielleicht gar zu einem neuen Blick auf die eigenen Eltern anzuregen, habe ich meine Ziele erreicht.“

Ein Land – drei Generationen

Depressive Symptome in der Schule

Auch bei den Kolleginnen und Kollegen der Schulpyschologie wird beim Thema »Depression« sehr stark auf ihren medizinischen und klinischen Begriff abgehoben. Diese Sicht infrage zu stellen, heißt nicht, ihn zu leugnen. Wie selbstverständlich wird jedoch die medizinische Nomenklatur und ihre Denkweise aufgenommen und vorausgesetzt. Nicht dass »Depression« keine medizinische, biologische oder klinische Seite hätte – nur sie zu sehen und sich auf ihr implizites Denk- und Theoriemodell einzulassen, hieße aber, Möglichkeiten der Interpretation und Einwirkung auszublenden. Weiterlesen „Depressive Symptome in der Schule“

Von Löwen und Füchsen

Der Hanser Verlag veröffentlichte  ein Büchlein des Soziologen Heinz Bude: Bildungspanik —  Was die Gesellschaft spaltet. Hier einige Anmerkungen dazu:

Heinz Bude beginnt sein kleines Buch damit, dass er zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende Lager kennzeichnet. Da seien zum einen die, die klassenmäßige Privilegien verteidigten und zum anderen diejenigen, die prüften, ob man sich als Feind oder Freund der eigenen Kinder oute. Angesichts solcher Unversöhnlichkeit zieht der Autor den Schluss, dass eine dritte Position äußerst dringlich sei. Wer sich nun erhoffte, im Laufe des Textes werde sie erkennbar, sieht sich getäuscht. Oder sollte das Schlusskapitel diese Lösung darstellen? Darin plädiert Bude für Entspannung. Es ist die Demografie, die Erlösung verschafft. Da klappt man am Ende baff und seufzend das Buch zu, nachdem man doch einige anregende Zuspitzungen gelesen hatte. Weiterlesen „Von Löwen und Füchsen“