Der innere Ort, von dem aus „ich“ handele – die Welt, auf die „ich“ mich beziehe. Leben in der Wahrheit und/oder in Lüge (frei nach Václav Havel)


Der Begriff vom inneren Ort, von dem aus ich berate und mich in die Welt einmische – gewissermaßen mein Rückzugsort und Startplatz, war für mich hilfreich, Standpunkt und Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Er hat sich für mich als nützlich erwiesen, um die Koordinaten meines Handelns in der Innen- und Außenwelt zu bestimmen.


Verloren gegangene Koordinaten und Normen


In den letzten Jahren, so scheint es mir, ist es schwerer geworden, den Ort, von dem aus (jeweils) ich handele, zu bestimmen. In den vergangenen Jahren ist etwas geschehen, was offensichtlich die Koordinaten durcheinandergebracht hat. Bezugsgrößen und Wahrheiten haben sich in einem Maße verändert, so dass viele Menschen sich in ihren Welten nicht zurechtfinden, etwas ist ins Rutschen geraten. Wo ist das Subjekt oder wo sind die Subjekte dieser Veränderung?

Kontrolle und Repression (und die Angst vor ihnen) sind schon fast normaler Bestandteil des Lebens. Normen und Regeln wurden neu gesetzt, mit mehr oder weniger großer Zustimmung, der gesellschaftliche Friede ist in Frage gestellt, von wachsender Spaltung und Aggression ist die Rede. Was heißt das für unser Zusammenleben, für die Art und Weise, wie wir unseren Beruf ausüben – wie berührt uns das existenziell?
Zumindest einige Anregungen zur Beantwortung dieser Fragen fand ich bei Václav Havel. Es war das multipolar-magazin das seinen Essay, Versuch in der Wahrheit zu leben ausgegraben hatte. Ich werde darauf im weiteren Verlauf zurückkommen. Zudem scheint mir der Titel Havels ein guter Bezugspunkt für die Gegenwartsfragen, mit denen wir uns herumschlagen.

Weiterlesen „Der innere Ort, von dem aus „ich“ handele – die Welt, auf die „ich“ mich beziehe. Leben in der Wahrheit und/oder in Lüge (frei nach Václav Havel)“

Alles ist möglich

Ich höre von Bekannten und erlebe es in meinem etwas kleiner gewordenen Lebenskreis selbst, dass man nicht selten von Belehrungen, gut gemeinten Erinnerungen zu korrektem Benehmen in Corona-Zeiten angehalten wird. Diejenigen, die sie aussprechen wirken nicht selten autoritär, gereizt und so, als habe man in nicht allzu ferner Zukunft eine schwere Explosion zu gewärtigen. Ich will damit sagen: Man bekommt signalisiert, dass man mit dem äußersten rechnen sollte: Abbruch der Beziehung, Exkommunikation. Man möchte spontan dagegenhalten, maulen und meckern. Immerhin gilt es besonnen zu bleiben, obwohl doch die Bekannten und Kolleg’inn’en, manchmal gar Freunde, sich mit Ungereimtheiten der Datenlage, mit einer Aussetzung der Grundrechte einverstanden erklären. – Etc.

Man ist ja gleich weg und hat nicht vor, 15 Minuten an einem ungastlichen Ort zu bleiben. Die Entfernung ist doch mindestens doppelt so groß, wie die angeratenen 1,50 Meter. Und dass man mir auf einem Bürgersteig, wo man in Bruchteilen von Sekunden aneinander vorbei ist, mit einem ostentativen Sprung ausweicht, ist doch nicht nur übertrieben, sondern auch beschämend. Was soll das? Da will mir jemand etwas zeigen. Dieser Jemand hat mir etwas voraus. Ganz bestimmt die regierungsamtliche Vernunft. Diese Aufpasser’innen fühlen sich im Aufwind. Sie wissen das, sonst würden sie sich nicht so selbtgewiss aufführen. sie haben wohl eine neue Partei gegründet, eine Partei der Ordnungsrufer’innen, die aufdringlich sein dürfen. Man möchte rebellieren angesichts solcher Anmaßungen. Und dabei womöglich noch in dieselbe Haltung verfallen. Ich lasse es lieber und beschäftige mich mit der Frage: Was ist hier los?


Vielleicht sind diese Erwachsenen doch nicht so erwachsen, wie sie scheinen? Was legt Corona – Nein. nicht Corona – sondern: was legen die Kommunikationspolitik und Verordnungen der Regierungen da von meinen Mitmenschen frei? So hatte ich so noch nicht gesehen. Ist da eine tiefe, große Lebensangst, die sie mit Hilfe ihrer Klugheit, mit Hilfe all dessen, was sie gelernt haben und mit ihrer Fertigkeit, sich anpassen zu können, verborgen haben? Zwar immer noch verkleidet aber doch erkennbar, soll es vorkommen, dass Kolleg’inn’en die Systemrelevanz ihrer Arbeit entdecken und vorfühlen, ob es nicht eine Gelegenheit gebe, sich in der Impfschlange nach vorn zu pfuschen. Ob die das im Supermarkt auch so machen? Nun gut. Andere wieder schämen sich für solche Kolleg’inn’en, fremdschämen genannt.

Weiterlesen „Alles ist möglich“

Fatale Krisenkommunikation

Die Katastrophe naht. Oder vielleicht doch nicht? Oder fand sie vielleicht schon zwischen 2013 und 2019 statt?

»Personalmangel: Intensivstationen am Limit

von Anne Ruprecht

Der Mangel an Pflegepersonal führt zu erheblichen Konsequenzen auf den Intensivstationen in norddeutschen Kliniken. Nach Recherchen von Panorama 3 können viele vorhandene Betten aufgrund fehlenden Personals nicht belegt werden. Vor allem in Niedersachsen und Bremen sind die Engpässe zum Teil erheblich. Teilweise kann bis zu einem Drittel der vorhandenen Intensivbetten nicht genutzt werden, da die notwendigen Intensivpflegekräfte fehlen.«

Entschuldigung. Das ist eine Meldung des NDR vom 11.12.2018, abgerufen am 10.12.2020

»Offenbar haben die seit Januar 2019 geltenden Personaluntergrenzen das Problem an einigen Häusern noch verschärft. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft bewertet die neuen Grenzen angesichts von 17.000 unbesetzten Stellen „hoch problematisch“. Die Untergrenzen führten dazu, dass „zusätzliche Versorgungskapazitäten abgemeldet werden und Versorgungsengpässe entstehen“, sagt Georg Baum, Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG).«

heißt es beim NDR am 11.2.2020

Am 6.4.2018 meldet die WAZ:

»Intensivstation immer öfter voll«

»Unbefristeter Arbeitskampf an der Berliner Charité hat begonnen

Mit der Arbeitsniederlegung will Verdi einen Tarifvertrag durchsetzen, der eine bestimmte personelle Mindestausstattung der Stationen mit Pflegepersonal vorsieht.«

Hm. Die Meldung stammt vom 31.5.2015. Auch schon etwas länger her.

Solche Meldungen finden sich zuhauf, wenn man „Intensivbetten“ in die Suchfunktion eingibt.

Ist es vielleicht doch nicht das böse Virus, das uns zurzeit eine Reihe von Kalamitäten beschert, sondern eine Politik der Ökonomisierung des Krankenhauswesens in den vergangen Jahren? Die Berater’innen im Kanzleramt sind diejenigen, die für eine Studie der Bertelsmann-Stiftung Schließungen von Krankenhäusern empfehlen. Und wohl ebenso wichtig: Was wurde an den Arbeitsbedingungen der Pfleger’innen und Ärzt’inn’en verbessert? Die am Limit arbeitenden Krankenhäuser – eine Naturkatastrophe, wie wir aus den Regierungen hören?

In einem Forum des Ärzteblatts

wird berichtet, dass die Grenzen der Auslastung in den vergangenen Jahren immer wieder erreicht, Patient’inn’en abgewiesen und Operationen verschoben wurden. Niemanden in Medien und Politik beunruhigte das besonders. Verwiesen wird auf einen Artikel in der Jungen Welt. Wer bei dieser Zeitung Ausschlag bekommt, findet andere Medien, die szum selben Ergebnis kommen.

In diesem Jahr ist alles anders. Plötzlich geht es um Leben und Tod. Es wird noch nachklingen und vielleicht erst in späteren Jahren zu Bewusstsein gelangen, dass hier ein Widerspruch verborgen ist: Warum ging das in den vergangenen Jahren durch, obwohl doch unterschiedlichste Organisationen – aus welchen Motiven auch immer – mit der Reaktion auf pandemische Ereignisse in großen Übungen befasst waren? (Lesenswert: Paul Schreyer, Chronik einer angekündigten Krise). Ließ man es etwa darauf ankommen, um im Falle des Falles einen Great Reset machen zu können, den Umbau der Gesellschaft, den auch Frau Merkel will? Sie und viele andere liebäugeln schon länger mit Formen einer gelenkten Demokratie. Der Begriff von der marktkonformen Demokratie ist unvergessen. Demokratie, Teilhabe, offene Diskussionen stören vermutlich den Gang zu einem verantwortungsvollen Kapitalismus, wie Vordenker ihn in Aussicht stellen. Als verführerisches Beispiel einer erfolgreichen Wirtschaft und Krisenbewältigung wird uns China vorgehalten. Wenn wir da mithalten wollen, müssen wir werden wie sie, ist die Botschaft.

Wo war die verantwortungsvolle Regierungsführung in der Vergangenheit?

Seit vielen Jahren haben wir es in der Regierungspolitik mit Desinteresse und Verantwortunglosigkeit gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung zu tun, die – wenn auch mit zeitweiligen Überlastungen für Patienten, Angehörige und Personal – sich als Teil von Normalität und Selbstverständlichkeit (da gab es nichts zu fragen) etabliert hatten. Schlimm genug und das ist nicht schön.

Nun aber in diesem Jahr und bei dieser „Katastrophe“ besinnen sich Regierungen eines Besseren. Ihr Verantwortungsbewusstsein und ihr Interesse an unserem Überleben ist überwältigend. Aber auch da schleichen sich Zweifel ein. Es wäre doch zwingend gewesen, sich auf eine Krise vorzubereiten. Darauf hat man in der weiteren Vergangenheit, wie auch im Sommer im Wesentlichen verzichtet und lastet den Bürger’inne’n auf, was nicht in ein funktionierendes Gesundheitssystem investiert wurde. Sie sollen jetzt mit dem Befolgen von Verordnungen und Maßnahmen, – Solidarität! – sich verantwortungsvoll zeigen. So dumm sind die Menschen nicht, dass sie diese Schuld- und Verantwortungsverschiebung nicht mindestens spürten. So sieht der Zusammenhalt aus: Das nicht hinterfragen und das tun, was die Obrigkeit verlangt.

Was als Manipulation und als Verratserfahrung auf die Politik zurückfallen könnte, wenn sie denn einmal erkennbar würden, muss unter Kontrolle gebracht werden (Strategiepapier des Innenministeriums). Und zwar unter anderem mit moralischen Apellen einer sich ohnmächtig gebenden Mutter gegenüber ihren uneinsichtigen Kindern. Und Dissident’inn’en gehören ausgegrenzt, ganz so, wie es das Strategiepapier des Innenministeriums vorsieht.

Der Trick der Emotionalisierung

Unsere Bundeskanzlerin kann durch aus anders: Sie kritisiert oder bedauert, »dass wir in einer Zeit leben, in der Fakten mit Emotionen konkurrieren«, dass mit Emotionen »eine Antifaktizität« geschaffen werde. Sie zieht daraus den Schluss:

»wir müssen die Emotionen mit den Fakten versöhnen. Das ist vielleicht die größte gesellschaftliche Aufgabe. Um diese anzugehen, setzt zumindest voraus, dass man miteinander spricht. Die Unversöhnlichkeit und die Sprachlosigkeit, die zum Teil zwischen denen herrschen, die den Klimawandel leugnen, und denen, die ihn sehen und dafür kämpfen, dass wir ihn bewältigen, müssen überwunden werden.«

Wir sehen: es geht gegen Trump.

Nun stellen wir zwischenzeitlich eine »Antifaktizität« und moralisierende Emotionalisierung bei der Kanzlerin selbst, bei der Regierung und den ihnen mehrheitlich folgenden Medien fest. Bei aller Evidenzverliebtheit, die der Kanzlerin und ihren Stäben nachgesagt wird, kommen immer mehr Menschen mit so manchen Daten und Schlussfolgerungen für das alltägliche Leben nicht mehr mit. Die Schludrigkeit im Umgang mit Zahlen und methodischen Grundlagen der Datenerhebung fordert Zweifel geradezu heraus, ebenso wie Fehlanreize für Belegung und Bezahlung von Intensivbetten in einem privatisierten Gesundheitssystem. Die Veranwortung dafür wird aber nun einer Anfälligkeit der Menschen für die Verführungskünste von Verschwörern und Verschwörerinnen zugewiesen.

Ein Test, in dessen Gebrauchsanleitung steht, dass er nicht für diagnostische Zwecke geeignet sei, der nicht ein Virus nachweist, sondern Teile eines Virus aufspüren kann, der vielleicht einmal da war, ein Test, der aufgrund der Methodik der Anwendung (Amplifizierung) zu falsch positiven und wechselnden Ergebnissen neigt, wird zum täglichen Schrecksignal für eine drohende Katastrophe. Wer positiv getestet ist, ist nicht zwangläufig krank – mindestens ebenso gut kann das Gegenteil der Fall sein.

Belegung der Intensivbetten

Eine andere Größe gibt mehr Auskunft über womöglich bevorstehende Belastungen: Die Belegung der Intensivbetten. Sie ähnelt der der vergangenen Jahre. Damit soll nicht gesagt sein, dass es dann ja nicht so schlimm sei. Ich werde auch nicht bezweifeln, dass Ärzte und Pfleger’innen am Limit arbeiten und dass man eine Zuspitzung der Belastungen verhindern müsse. Ich will auch nicht ausschließen, dass ein an Covid erkrankter Mensch mehr Pflege und mehr Personal verlangt als andere Intensivpatient’inn’en.

Wenn es so ist, wie immer, ist es lange nicht gut. Aber es kann nicht angehen, dass wir in derselben Lage, wie in einigen Vorjahren, nun in eine Katastrophe hineingeredet werden. Denn: wie sollen die Menschen, die die Moralpredigten erhalten, es einordnen, dass in den Vorjahren diese Zahlen Normalität waren und jetzt die Katastrophe? Sie werden sich doch fragen: Was hat man uns damals verschwiegen? Oder: Wie glaubwürdig ist das, was wir jetzt hören?

Die Verantwortungsverschiebung

Es kann doch nicht sein, dass die Menschen sich erzählen lassen, sie seien es, die es verbockt hätten (so ungefähr der Bürgermeister einer sächsischen Stadt in der Phönix-Runde am 9.12.2020) und die Katastrophen der Vergangenheit, die sich einer Politik und keiner Naturgewalt verdanken, werden verschwiegen. Hier sind auch die Vertreter’innen der Arzte- und Pflegeberufe gefordert. Verständlicherweise fordern sie zu strengeren Maßnahmen auf, weil sie den Kollaps befürchten. Es würde viel helfen, sie würden erwähnen „so, wie in den vergangenen Jahren auch schon.“ Und: „Wir müssen die Pfeiler unseres Gesundheitssystems von grundauf ändern.“ Tun sie es nicht, werden sie wahrgenommen als Teil jener Politiker’innen, die ihre Glaubwürdigkeit schon seit längerer Zeit einbüßen.

Es zeigt sich, dass die Kommunikation zwischen Regierenden und Bevölkerung nicht funktionieren kann, wenn sie versteckt oder offen, der Kontrolle dient, wenn mit Tricks und Framing unter Ausschaltung der Urteilsfähigkeit mit Nudging und Nahelegungen die Bürger’innen in eine »schöne, neue Welt« (Huxley) hineinprozessiert werden sollen. Übrigens bedeutet Framing im Englischen auch so viel wie Übertölpeln.

Spielräume der »Machtunterworfenen« im unwirtlichen Gelände der Beratung (II)

Die Zeit für Alternativen ist reif – die Menschen sind am Ende

Was ich im vorangehenden Beitrag geschildert habe, sind Folgen des unternehmerischen Denkens, wie es in Folge der neoliberalen Wende – Derugulierung, Privatisierung, Kürzung, Konkurrenz – zur Doktrin wurde. Damit machte man die Welterklärung und -gestaltung einfach. Alles Handeln und Gestalten geschehe dann effektiv, wenn man es in die Form eines Geschäfts, eines Deals, also einer Ware brachte. Dieses Schmalspurdenken ist nur dann eine Lösung, wenn man die Wirklichkeit ignoriert. Also ist es keine echte Lösung. Auch dann nicht, wenn man versucht, die Wirklichkeit an den Glauben/die Theorie anzupassen. Ich erspare es mir hier, das weiter auszuführen.

Weiterlesen „Spielräume der »Machtunterworfenen« im unwirtlichen Gelände der Beratung (II)“

Spielräume der »Machtunterworfenen« im unwirtlichen Gelände der Beratung (I)

Die Lage der Beratung in Hamburg ist seit mehreren Jahren beunruhigend. Weil es mich so beunruhigt, habe das hier noch einmal aufgeschrieben. Im nächsten Beitrag widme ich mich der Frage, ob es Anlass zur Hoffnung gibt, dass die Lage sich bessern könnte. Hoffnung ist da. Wir müssen etwas dazutun und nicht nur Zuschauer/innen sein.

Ein Politiker muss heutzutage den Eindruck vermitteln können, er habe Lage und Laden im Griff. Er oder sie hat es in Vorwahl- und Wahlzeiten so versprochen. Er (oder sie) orientiert sich an den attraktiven und attraktiv gemachten Leitbildern und Führungskonzepten. Einzelpersonen werden idealisiert, ihnen sollen wir uns anvertrauen (gab’s das nicht schon mal – mit wenig überzeugendem Ausgang?). »Wer Leitung bestellt, bekommt sie auch«. Und soll sich hinterher nicht beklagen. So oder so ähnlich die Botschaft des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz.
Einer seiner getreuesten Gefolgsleute ist der Schulsenator Ties Rabe. Damit müssen wir leben. Getreu seinem Führungsverständnis müssen zwei bis drei zentrale schulische Problemfelder bearbeitet und zum Erfolg geführt werden. Sie müssen so durchgearbeitet herauskommen, dass sie dem Versprechen gemäß sind: Alles im Griff.

Ranking ist kein Entwicklungsmotor

Weiterlesen „Spielräume der »Machtunterworfenen« im unwirtlichen Gelände der Beratung (I)“

Umkämpfte Resilienz

Fertigwerden mit dem Unvermeidlichen?

Angebote und Qualifikationen im sich rasch drehenden Karussell der Nöte und Hilfen up to date zu halten ist nicht einfach. Der Markt scheint immer Neues zu verlangen. Kann ich mich mit „meinem“ Beratungs- und Hilfeangebot noch sehen lassen oder drohe „ich“ mit meinem Profil unter die Räder zu geraten?

Öffentliche Verwaltungen verhalten sich wie Unternehmen, wollen effiziente und preisgünstige Hilfe, um – beispielsweise – mit Lernstörungen, Folgen von Desintegration, Ausschluss, Lebenskrisen, nicht zuletzt hervorgerufen durch politische oder unternehmerische Entscheidungen, fertig zu werden. Wie schon oft zu hören, sei die Welt aus den Fugen geraten.

Seit einigen Jahren wird uns das Konzept der Resilienz als Heilmittel für heimische Vorgänge sozialer Desintegration und für globale Katastrophen, resultierend aus Krieg und Klimawandel, nahegebracht. Dieser Begriff, der aus der Physik stammt und die Biegbarkeit und Festigkeit eines Materials beschreibt, welches unter Belastung nicht bricht, sondern standhält und seine ursprüngliche Form wieder annimmt, findet sich in Therapie und Beratung, in Führungskräftetrainings und Organisationsentwicklungskonzepten. Aber nicht nur dort: Ganze Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen sollen mit den Segnungen von Resilienzkonzepten versorgt werden. Pädagoge/inn/en wie Innen-, Außen- und Verteidigungsminister/innen setzen große Hoffungen auf dieses Konzept. Was kann uns das über die Beratungsszene und über Politikkonzepte sagen?

Fortsetzung als pdf und zum Herunterladen

Schiefe Ebene: Von der Chancengleichheit zur Chancengerechtigkeit

In der öffentlichen Debatte wurde in den letzten Jahrzehnten der Begriff der Chancengleichheit durch den der Chancengerechtigkeit ersetzt. Damit ist der Skandal verschleiert, dass in diesem Zeitraum sich weder Gleichheit noch Gerechtigkeit entwickelt haben. Allerdings hat der Begriff der »Gerechtigkeit« den „Vorteil“, dass er unpräzise ist, sich aber moralisch, anspruchsvoll und erhaben anhört. Hans-Günter Rolff macht in der Neuen Deutschen Schule darauf aufmerksam. Die Gleichheit ist danach die Voraussetzung für Gerechtigkeit.

Im gleichen Heft gibt es noch weitere Artikel zum Thema.

Begibt man sich mit diesem Thema auf eine Zeitreise in die 1960 er und 1970 er Jahre und wieder zurück in die Gegenwart wird man das Gefühl nicht los, dass auf jeden Fall die sprachliche Kreativität eine ernorme Entwicklung durchlaufen hat, ohne dass sich an der Chancengleichheit oder Durchlässigkeit des Bildungssystems irgendetwas Entscheidendes geändert hätte.

Alle scheinen aktiv wie die Ameisen, immer geschäftig. Immer unterwegs mit neuen bahnbrechenden Modellen, Untersuchungen und Beweisführungen. Es gibt die kontextsensible Schulentwicklung. Aus Problemen wurden Herausforderungen und herausfordernde Lagen.

Was ist Zweck und Ziel der Aktivitäten in Politik und Behörden, in Gewerkschaften und Kollegien? Ist der (womöglich falsche) Begriff nicht vielleicht der Versuch der Verschleierung obszöner Verhältnisse und der Anbiederung, eine Überlebenskunst in herrschenden Verhältnissen zwecks Leugnung von Komplizenschaft und beschämender Ohnmacht? In dieser Begriffshuberei sehe ich eine Form der Selbstberuhigung, schließlich ist doch so viel Produktivität und Vielfalt ohne Substanz nicht denkbar, oder? »Ein rasender Stillstand« möchte man mal wieder sagen.

Wohin der Tanker fährt, scheint die Ameisen nicht zu interessieren; zudem sind sie geschichtsvergessen. Vielleicht wissen sie noch nicht einmal, dass sie sich auf einem befinden.

Ein Bildungsproblem – oder doch eher Meinungsmache?

Bedenkenswert. Was nicht der Rede wert ist

Hm. Da stimmt doch was nicht. Gerade war Wahl in Hamburg. Die SPD ist mit Olaf Scholz an der Spitze Wahlsiegerin. Herzlichen Glückwunsch! Und doch hat die SPD 2,7 Prozent verloren. Macht nach dem jetzigen Stand 45,7 Prozent aus (Zahlen laut Abendblatt). Es gab Kommentatoren, die die SPD damit nahe 50 Prozent sahen … Grübel, grübel. In allen vorherrschenden Medien wurde Olaf Scholz als Wunderknabe bejubelt. Hm. Erwähnt wurde nicht bis fast gar nicht, dass er und seine Partei doch 2,7 Prozent verloren hatten. Und dass die Linkspartei ein Plus von 2,1 Prozent zu verzeichnen hatte, schien niemandem der Rede wert. Sie wurde weitgehend ignoriert, anders als die FDP und die AfD.

Wie geht es der Schulpsychologie in Niedersachsen?

Der Charakter von Schulpsychologie und Beratung ändert sich. Zu sehen ist das auch in Niedersachsen. Volker Bohn schreibt darüber:

Meine These: Eine Reihe von Arbeitsfeldern, die noch bis in die 1990er Jahre hinein wesentlich von Schulpsychologie in Niedersachsen entwickelt und gestaltet worden sind, ist inzwischen großenteils als Pädagogische Beratung wiederzufinden: Förderdiagnostik/Lernstörungen, psychosoziale (Entwicklungs-)Störungen, Qualifizierungsprojekte für Schulleitungen und Schulentwicklungsberatung

Um nicht der „Zwangsberatung“ verdächtigt zu werden, reklamiert Pädagogische Beratung demzufolge ähnlich wie die Psychologische Beratung „Unabhängigkeit, Freiwilligkeit und Verschwiegenheit“ für sich. Allerdings eben nur „ähnlich“: Anders als die Psychologische Beratung ist sie in den schulfachlichen Dezernaten in der Schulverwaltung eingegliedert(*FN* Nach anfänglichem Zögern ist dann auch die Schulentwicklungsberatung mit einbezogen worden, also in die auch fachlich weisungsabhängige Verwaltungshierarchie.

Beratung zwischen Subjektstärkung und Optimierungszwängen

Die Zeiten ändern sich – und mit ihr die Schulberatung, wie ich in meinem neuen Aufsatz Steuerung optimiert – Beratung und Subjekt tot? zu zeigen versuche. Obwohl es in vielerlei Hinsicht „aufs Subjekt ankommt“, soll es gemäß Standards funktionieren. Und mit ihr die Schulberatung. Zumindest mancherorts. Wachsamkeit ist angesagt.

Nicht nur Schule, sondern auch die ihr nachgelagerte Schulberatung steht unter Veränderungsdruck. So widersprüchlich, schlecht vorbereitet und umgesetzt die Reformen erscheinen mögen, verfolgen sie doch einen Zweck. Sie sind Stationen der Wende zur unternehmerischen Schule, die wie ein Betrieb geführt wird. Die »Employability« am Markt soll der Zweck von Schule sein, nicht der den Menschen »bildende« Prozess im Sinne von Verstehen und kritischer, eigenständiger Urteilsfähigkeit. Weiterlesen „Beratung zwischen Subjektstärkung und Optimierungszwängen“