Fatale Krisenkommunikation

Die Katastrophe naht. Oder vielleicht doch nicht? Oder fand sie vielleicht schon zwischen 2013 und 2019 statt?

»Personalmangel: Intensivstationen am Limit

von Anne Ruprecht

Der Mangel an Pflegepersonal führt zu erheblichen Konsequenzen auf den Intensivstationen in norddeutschen Kliniken. Nach Recherchen von Panorama 3 können viele vorhandene Betten aufgrund fehlenden Personals nicht belegt werden. Vor allem in Niedersachsen und Bremen sind die Engpässe zum Teil erheblich. Teilweise kann bis zu einem Drittel der vorhandenen Intensivbetten nicht genutzt werden, da die notwendigen Intensivpflegekräfte fehlen.«

Entschuldigung. Das ist eine Meldung des NDR vom 11.12.2018, abgerufen am 10.12.2020

»Offenbar haben die seit Januar 2019 geltenden Personaluntergrenzen das Problem an einigen Häusern noch verschärft. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft bewertet die neuen Grenzen angesichts von 17.000 unbesetzten Stellen „hoch problematisch“. Die Untergrenzen führten dazu, dass „zusätzliche Versorgungskapazitäten abgemeldet werden und Versorgungsengpässe entstehen“, sagt Georg Baum, Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG).«

heißt es beim NDR am 11.2.2020

Am 6.4.2018 meldet die WAZ:

»Intensivstation immer öfter voll«

»Unbefristeter Arbeitskampf an der Berliner Charité hat begonnen

Mit der Arbeitsniederlegung will Verdi einen Tarifvertrag durchsetzen, der eine bestimmte personelle Mindestausstattung der Stationen mit Pflegepersonal vorsieht.«

Hm. Die Meldung stammt vom 31.5.2015. Auch schon etwas länger her.

Solche Meldungen finden sich zuhauf, wenn man „Intensivbetten“ in die Suchfunktion eingibt.

Ist es vielleicht doch nicht das böse Virus, das uns zurzeit eine Reihe von Kalamitäten beschert, sondern eine Politik der Ökonomisierung des Krankenhauswesens in den vergangen Jahren? Die Berater’innen im Kanzleramt sind diejenigen, die für eine Studie der Bertelsmann-Stiftung Schließungen von Krankenhäusern empfehlen. Und wohl ebenso wichtig: Was wurde an den Arbeitsbedingungen der Pfleger’innen und Ärzt’inn’en verbessert? Die am Limit arbeitenden Krankenhäuser – eine Naturkatastrophe, wie wir aus den Regierungen hören?

In einem Forum des Ärzteblatts

wird berichtet, dass die Grenzen der Auslastung in den vergangenen Jahren immer wieder erreicht, Patient’inn’en abgewiesen und Operationen verschoben wurden. Niemanden in Medien und Politik beunruhigte das besonders. Verwiesen wird auf einen Artikel in der Jungen Welt. Wer bei dieser Zeitung Ausschlag bekommt, findet andere Medien, die szum selben Ergebnis kommen.

In diesem Jahr ist alles anders. Plötzlich geht es um Leben und Tod. Es wird noch nachklingen und vielleicht erst in späteren Jahren zu Bewusstsein gelangen, dass hier ein Widerspruch verborgen ist: Warum ging das in den vergangenen Jahren durch, obwohl doch unterschiedlichste Organisationen – aus welchen Motiven auch immer – mit der Reaktion auf pandemische Ereignisse in großen Übungen befasst waren? (Lesenswert: Paul Schreyer, Chronik einer angekündigten Krise). Ließ man es etwa darauf ankommen, um im Falle des Falles einen Great Reset machen zu können, den Umbau der Gesellschaft, den auch Frau Merkel will? Sie und viele andere liebäugeln schon länger mit Formen einer gelenkten Demokratie. Der Begriff von der marktkonformen Demokratie ist unvergessen. Demokratie, Teilhabe, offene Diskussionen stören vermutlich den Gang zu einem verantwortungsvollen Kapitalismus, wie Vordenker ihn in Aussicht stellen. Als verführerisches Beispiel einer erfolgreichen Wirtschaft und Krisenbewältigung wird uns China vorgehalten. Wenn wir da mithalten wollen, müssen wir werden wie sie, ist die Botschaft.

Wo war die verantwortungsvolle Regierungsführung in der Vergangenheit?

Seit vielen Jahren haben wir es in der Regierungspolitik mit Desinteresse und Verantwortunglosigkeit gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung zu tun, die – wenn auch mit zeitweiligen Überlastungen für Patienten, Angehörige und Personal – sich als Teil von Normalität und Selbstverständlichkeit (da gab es nichts zu fragen) etabliert hatten. Schlimm genug und das ist nicht schön.

Nun aber in diesem Jahr und bei dieser „Katastrophe“ besinnen sich Regierungen eines Besseren. Ihr Verantwortungsbewusstsein und ihr Interesse an unserem Überleben ist überwältigend. Aber auch da schleichen sich Zweifel ein. Es wäre doch zwingend gewesen, sich auf eine Krise vorzubereiten. Darauf hat man in der weiteren Vergangenheit, wie auch im Sommer im Wesentlichen verzichtet und lastet den Bürger’inne’n auf, was nicht in ein funktionierendes Gesundheitssystem investiert wurde. Sie sollen jetzt mit dem Befolgen von Verordnungen und Maßnahmen, – Solidarität! – sich verantwortungsvoll zeigen. So dumm sind die Menschen nicht, dass sie diese Schuld- und Verantwortungsverschiebung nicht mindestens spürten. So sieht der Zusammenhalt aus: Das nicht hinterfragen und das tun, was die Obrigkeit verlangt.

Was als Manipulation und als Verratserfahrung auf die Politik zurückfallen könnte, wenn sie denn einmal erkennbar würden, muss unter Kontrolle gebracht werden (Strategiepapier des Innenministeriums). Und zwar unter anderem mit moralischen Apellen einer sich ohnmächtig gebenden Mutter gegenüber ihren uneinsichtigen Kindern. Und Dissident’inn’en gehören ausgegrenzt, ganz so, wie es das Strategiepapier des Innenministeriums vorsieht.

Der Trick der Emotionalisierung

Unsere Bundeskanzlerin kann durch aus anders: Sie kritisiert oder bedauert, »dass wir in einer Zeit leben, in der Fakten mit Emotionen konkurrieren«, dass mit Emotionen »eine Antifaktizität« geschaffen werde. Sie zieht daraus den Schluss:

»wir müssen die Emotionen mit den Fakten versöhnen. Das ist vielleicht die größte gesellschaftliche Aufgabe. Um diese anzugehen, setzt zumindest voraus, dass man miteinander spricht. Die Unversöhnlichkeit und die Sprachlosigkeit, die zum Teil zwischen denen herrschen, die den Klimawandel leugnen, und denen, die ihn sehen und dafür kämpfen, dass wir ihn bewältigen, müssen überwunden werden.«

Wir sehen: es geht gegen Trump.

Nun stellen wir zwischenzeitlich eine »Antifaktizität« und moralisierende Emotionalisierung bei der Kanzlerin selbst, bei der Regierung und den ihnen mehrheitlich folgenden Medien fest. Bei aller Evidenzverliebtheit, die der Kanzlerin und ihren Stäben nachgesagt wird, kommen immer mehr Menschen mit so manchen Daten und Schlussfolgerungen für das alltägliche Leben nicht mehr mit. Die Schludrigkeit im Umgang mit Zahlen und methodischen Grundlagen der Datenerhebung fordert Zweifel geradezu heraus, ebenso wie Fehlanreize für Belegung und Bezahlung von Intensivbetten in einem privatisierten Gesundheitssystem. Die Veranwortung dafür wird aber nun einer Anfälligkeit der Menschen für die Verführungskünste von Verschwörern und Verschwörerinnen zugewiesen.

Ein Test, in dessen Gebrauchsanleitung steht, dass er nicht für diagnostische Zwecke geeignet sei, der nicht ein Virus nachweist, sondern Teile eines Virus aufspüren kann, der vielleicht einmal da war, ein Test, der aufgrund der Methodik der Anwendung (Amplifizierung) zu falsch positiven und wechselnden Ergebnissen neigt, wird zum täglichen Schrecksignal für eine drohende Katastrophe. Wer positiv getestet ist, ist nicht zwangläufig krank – mindestens ebenso gut kann das Gegenteil der Fall sein.

Belegung der Intensivbetten

Eine andere Größe gibt mehr Auskunft über womöglich bevorstehende Belastungen: Die Belegung der Intensivbetten. Sie ähnelt der der vergangenen Jahre. Damit soll nicht gesagt sein, dass es dann ja nicht so schlimm sei. Ich werde auch nicht bezweifeln, dass Ärzte und Pfleger’innen am Limit arbeiten und dass man eine Zuspitzung der Belastungen verhindern müsse. Ich will auch nicht ausschließen, dass ein an Covid erkrankter Mensch mehr Pflege und mehr Personal verlangt als andere Intensivpatient’inn’en.

Wenn es so ist, wie immer, ist es lange nicht gut. Aber es kann nicht angehen, dass wir in derselben Lage, wie in einigen Vorjahren, nun in eine Katastrophe hineingeredet werden. Denn: wie sollen die Menschen, die die Moralpredigten erhalten, es einordnen, dass in den Vorjahren diese Zahlen Normalität waren und jetzt die Katastrophe? Sie werden sich doch fragen: Was hat man uns damals verschwiegen? Oder: Wie glaubwürdig ist das, was wir jetzt hören?

Die Verantwortungsverschiebung

Es kann doch nicht sein, dass die Menschen sich erzählen lassen, sie seien es, die es verbockt hätten (so ungefähr der Bürgermeister einer sächsischen Stadt in der Phönix-Runde am 9.12.2020) und die Katastrophen der Vergangenheit, die sich einer Politik und keiner Naturgewalt verdanken, werden verschwiegen. Hier sind auch die Vertreter’innen der Arzte- und Pflegeberufe gefordert. Verständlicherweise fordern sie zu strengeren Maßnahmen auf, weil sie den Kollaps befürchten. Es würde viel helfen, sie würden erwähnen „so, wie in den vergangenen Jahren auch schon.“ Und: „Wir müssen die Pfeiler unseres Gesundheitssystems von grundauf ändern.“ Tun sie es nicht, werden sie wahrgenommen als Teil jener Politiker’innen, die ihre Glaubwürdigkeit schon seit längerer Zeit einbüßen.

Es zeigt sich, dass die Kommunikation zwischen Regierenden und Bevölkerung nicht funktionieren kann, wenn sie versteckt oder offen, der Kontrolle dient, wenn mit Tricks und Framing unter Ausschaltung der Urteilsfähigkeit mit Nudging und Nahelegungen die Bürger’innen in eine »schöne, neue Welt« (Huxley) hineinprozessiert werden sollen. Übrigens bedeutet Framing im Englischen auch so viel wie Übertölpeln.

Die Entkernung des Solidaritätsbegriffs

Misstrauen als neue Lebensweise?

Dass die Coronamaßnahmen der Politik mit der Art ihrer Begründung – mit der Ausblendung kritischer Stimmen, mit methodischen und methodologischen Unzulänglichkeiten der Datenerhebung, die keiner Reparatur unterzogen werden – die Grundlagen der Republik und unseres Zusammenlebens in Richtung Obrigkeitsstaat und Demokratieabbau verschieben, kann kaum mehr bezweifelt werden. Andererseits – aber auch zu dieser Entwicklung passend – haben es Stimmen schwer, überhaupt Gehör zu finden, die auf die möglichen Folgen dieser Verdrehungen hinweisen.

Angsterzeugung

Eine besonders perfide Strategie scheint jene systematischer Angsterzeugung zu sein, gekoppelt mit Propaganda von Werbefilmchen. Dagegen meldet sich Matthias Rudlof (Institut für ganzheitliche Entwicklung und Bewusstsein) zu Wort. Unter anderem kritisiert er eine neue Normalität der sozialen Distanzierung, der Furcht vor Mitmenschen und vor Krankheiten. Der Solidaritätsbegriff werde seines traditionellen Inhalts beraubt und einem Herrschaftsinteresse einverleibt:

Wahre Solidarität bedeutete in der Geschichte immer das beherzte Engagement von Menschen für Menschen und die Überwindung sozialer Ungleichheit durch Herrschaftskritik. Nun soll Solidarität im Kriegsnarrativ des harten gemeinschaftlichen „Kampfes gegen den Virus“ bedeuten, sich ohne kritischen Widerspruch mit der Weltsicht der Herrschenden und ihren Coronamaßnahmen zu identifizieren.

Psychologinnen und Psychologen für Aufklärung und Evidenzbasiertheit – gegen Manipulation und Propaganda

Kritisch-hinterfragende Haltung

Mit großer Überraschung und Freude habe ich heute über die Nachdenkseiten (hier die Erläuterung) erfahren, dass Psycholog’inn’en aufstehen können. Noch fehlen in der Reihe derjenigen, die sich zusammengeschlossen haben, die Schulpsychologinnen und Schulpsychologen. Auch wenn der Aufruf und die Veröffentlichung nahelegen, dass es psychotherapeutisch Arbeitende sind, wären die Schulpsycholog’inn’en dort vermutlich nicht „verkehrt“, werden doch auch Kolleg’inn’en der Organisations-, Wirtschafts- und forensischen Psychologie genannt, die an dem Versuch mitarbeiten, Menschenrechtlichkeit und Sachlichkeit in die Corona-Debatte hineinzutragen.

Die Stellungnahme des BDP, die vermutlich den Widerspruch der Kolleg’inn’en auslöste, zeigt bedauerlicherweise eine völlige Übereinstimmung mit den angewendeten Maßnahmen. Wie sollen sich Menschen, die zweifeln, an den Maßnahmen leiden, Vertrauen fassen, wenn sie von ihrem Therapeuten oder ihrer Beraterin lesen oder hören, dass „alles richtig sei“ und es darum gehe,

Normen eindeutig und nachvollziehbar [zu] kommunizieren und so deren Einhaltung [zu] optimieren.

Menschen also zum Objekt eines Erziehungsprozesses werden, in dem sie durch Gelegenheit zur »aktiven Mitwirkung [ihr] Kontrollgefühl steigern« und »dem Ärger über Einschränkungen (Reaktanz) vorbeugen« sollen.

Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP)
Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK)
Deutsche Gesellschaft für Psychologie e.V. (DGPs)
Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID)
,

die als Autoren dieses Papiers genannt sind, dienen sich dem vormundschaftlichen Staat an und formieren ihn.

Psycholog’inn’en auf der Seite der Macht

Im Sinne dessen, dass alles so, wie es ist, richtig ist, üben sich die Autoren der Stellungnahme in Weitsicht und Schutz der politischen und sozialen Verhältnisse :

Für die langfristigen psychischen Folgen der COVID-19-Krise ist es daher von äußerster Bedeutung, ob die gegenwärtigen Ereignisse im Nachhinein als kollektive Bewältigungserfahrung und damit als gemeinsames Erfolgserlebnis oder als Misserfolgserlebnis mit Betonung gesellschaftlicher Unterschiede und negativer Erfahrungen im Gedächtnis abgespeichert werden. Im ersteren Fall werden sich die psychischen Folgen in Grenzen halten, in zweiten Fall droht dagegen eine weitere Verschärfung des bereits bestehenden Trends zu stark wachsender Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung aufgrund von Angststörungen und Depressionen.

Die Verbände plädieren für die Organisierung von Erfolgserlebnissen und bieten sich im Framing des großen Ganzen als vernünftiges Bestehendes an. Sie beugen einer möglichen »Betonung gesellschaftlicher Unterschiede und negativer Erfahrungen im Gedächtnis« vor – als ob das eine unzulässige Variante einer Verarbeitung der Krisenfolgen wäre. Man könnte dazu neigen, das für eine Verschwörung einiger psychologischer (Fach?) Verbände halten.

In Sprache und Duktus kommt die Einlassung der Verbände selbst wie eine Verordnung daher: technokratisch, imperativ, militärisch. Die Subjekte der Stellungnahme sind verschleiert. Nicht: Wir stellen Erfolgserlebnisse dar, sondern (unter Maßnahmen): Erfolgserlebnisse darstellen. Da ist für Sprachanalytiker noch viel zu holen.

BDP und andere gekapert?

Klarer und offener haben sich Verbände der Psychologinnen und Psychologen wohl nie auf die Seite der Macht geschlagen – und damit eine Vertrauenskrise heraufbeschworen. Ein Dokument der Zeitgeschichte, würde ich sagen. Wer hat den Autor’inn’en die Hand geführt? Das Innenministerium, das sich mit einem Strategiepapier schon Ende März einschaltete und als wichtiges Steuerungswerkzeug die Angsterzeugung empfahl bzw. die Autor’inn’en, denen das Innenministerium einen Auftrag gab? Ob die Fassung, die mit Datum vom 28.4.2020 im Netz steht, mit der vom März identisch ist, kann ich im Augenblick nicht beurteilen.

In der Tat gibt es zwischen dem Strategiepapier aus dem Innenministerium und dem Verbändepapier Ähnlichkeiten, wie ich finde.

Um so dringlicher und notwendiger die Reaktion der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die aufstehen.

Psychologen zur "Coronakrise"

Die Mainstream- und Qualitätsmedien sind sehr damit beschäftigt, uns auf den Kurs der Regierung(en) einzuschwören. (Selbst-) Disziplinierung und Folgsamkeit sollen der Weg sein, der zur Rettung führen soll. Analyse und Kritik sind in der (selbst mit hergestellten) Not nicht angesagt. Rubikon hat in den letzten Tagen einige Aufstätze von Psychologen veröffentlicht, die das bekannte Spektrum des Gesagten und Gesollten um Nachdenkenswertes erweitern.

So schreibt Andreas Peglau, wie sich mit Erich Fromm die augenblickliche Lage auch psychologisch und psychoanalytisch analysieren lässt

Denn sollten sogar diese nicht mehr gelten, bliebe nur eines: Wir müssten selbst denken, urteilen und entscheiden, uns möglichst umfassend und tiefgründig informieren, zwischen konträren Darstellungen abwägen, Spannungen und Wissenslücken aushalten, uns mit anderen auf Augenhöhe austauschen, kritische Fragen stellen – auch an „Experten“. Wir müssten möglicherweise sogar Widerstand leisten gegen etwas, das „von oben“ kommt.

Klaus-Jürgen Bruder schreibt über den Diskurs der Macht, der gerade auch in Corona-Zeiten nicht stillgestellt ist und das Potenzial hat, uns zu korrumpieren.

Wir denken nur noch: Wie schütze ich mich? Wie sorge ich vor, verbunden mit der Hoffnung, es wird bald vorbei sein – wir denken nicht mehr an anderes, was vorher wichtig gewesen war: die Wirkung der Ablenkung – von dem, was diese „Krise“ erst möglich gemacht hat. Das Gesundheitswesen war nicht darauf vorbereitet, keine ausreichende Vorsorge an medizinischen Schutzmitteln, durch „Sparpolitik“ verursachter Mangel an Personal und Kliniken. Die Panik des Kaninchens angesichts der unvorhersehbar aufgetauchten Schlange.

Georg Lind schreibt über Panik.

Ein altbewährtes, wirksames Gegenmittel gegen pathologische Panik ist und bleibt mit Immanuel Kant:

Sapere aude! Wage zu denken!

101 Jahre Weimarer Schulkompromiss

Interessante Entwicklungslinien von 1919 bis in die 2020er Jahre

Vor einigen Tagen machte sich ein Kollege »Gedanken zum Schulsystem in Deutschland«. Seine Hauptthemen waren einige Inkonsistenzen der Schule zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die sich subversiv störend und irritierend auf Lernen und Unterrichten auswirken. Es lohnte sich, darüber eine Debatte zu führen. Ich will hier nur einen Aspekt herausgreifen.

Das derzeitige Schulsystem basiert im Wesentlichen auf preußischen Denk- und Organisationsstrukturen. In gut gemeinter Absicht wurde 1919 die allgemeine Schulpflicht durch die Weimarer Verfassung eingeführt, was damals eine sozialpolitisch wegweisende Entscheidung gewesen ist. Beibehalten wurden hingegen die „preußischen“ Organisationsstrukturen, die autoritär und streng hierarchisch waren. Sie basieren vor allem auf dem Prinzip von Befehl bzw. Anweisung (vgl. Gesetze, Erlasse) und Gehorsam bzw. Umsetzung.

In der Tat wurden 1919 die Weichen für ein Schulsystem gestellt, das wir in wesentlichen Zügen noch heute haben und das uns immer noch zu schaffen macht.

Wie ist das möglich nach zwei Weltkriegen, die eng mit einem reaktionären, nationalistischen und militaristischen Vorlauf verknüpft waren? Und wie ist es möglich, dass im Schul- und Bildungssystem sich undemokratische, integrations- und partizipationsfeindliche Strukturen und Traditionen nach diesen Erfahrungen halten konnten?

Weiterlesen „101 Jahre Weimarer Schulkompromiss“

Erziehung als Mittel der Verdinglichung

Ein vielversprechendes Buch ist vor Kurzem auf den Markt gekommen. Manche Zeile klingt drastisch.

Für den gewünschten Output wurde die herzustellende Ware im Fortgang des bio-logischen Wachstums vermessen, gesellschaftlich kontrolliert und, wenn nötig, aus-sortiert und im schlimmsten Falle zur Mangel- oder Fehlerware abgestempelt, aus dem Handel genommen und »verramscht«. Sein gesellschaftlicher Marktwert taxiert sich nach bestandener Qualitätsprüfung. Diese erfolgt, den Gesetzen des neoliberalen Marktes folgend, in standardisierter und objektivierter Form. Ziel der Herstellung ist das »normale Kind«.

Das passt so gar nicht zum Sound der Bildungspolitik und dazu, was viele sich wünschen zu sein, wenn sie erzieherisch oder beratend aktiv sein wollen. Die Gedanken der Autorin könnten aber geeignet sein, uns die Augen zu öffnen. Man könnte einen Zusammenhang herstellen: Je mehr vermessen, kategorisiert – also diskriminiert – wird, um so heftiger und rauschhafter wird die Rede von der Inklusivität geführt. Sabine Seichter hat das Buch »Das ›normale‹ Kind« geschrieben. Hier gibt es eine Leseprobe.

Bildungshorizonte

Man sollte glaube, , dass die Themen Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, die Frage: »Wie wollen wir leben?« an Schule und Bildung nicht vorbeigehen. Vielleicht hat sich etwas verändert, seitdem Fridays for Future stattfinden. Aber hat sich auch etwas am Bildungsverständnis verändert? Ist in der Diskussion, dass Subjektorientierung, Verantwortung, Persönlichkeitsentwicklung neu gedacht werden müssen? Dass Bildung mehr ist als Passung und Anpassung? Dass die Art zu lernen, die ausgewählten Themen und ihre Verknüpfung mit der Gesellschaft auf das aktuelle und spätere Handeln der jungen Menschen haben?

Im Alltagsgeschäft der Optimierungs- und Vermessungsarbeit dürfte das verloren gehen. Matthias Greffrath stellt diesen Zusammenhang in einer Essay-Reihe her. Lesenswert:

Wer von Demokratie redet, ohne über dieses gemeinsame Eigentum reden zu wollen, der meint es nicht ernst. Denn Demokratie setzt Sicherheit voraus. Wer Angst um sein Auskommen, seine Gesundheit, sein Alter haben muss, wer nicht durch Bildung in die Lage versetzt wird, urteilsfähig zu sein – der mag Bewohner eines Landes sein, aber er ist, im starken Sinne des Wortes, noch kein Bürger. Das sozialdemokratische Jahrhundert hat an der Herstellung einer solchen bürgerlichen Sicherheit gearbeitet – durch Vollbeschäftigung, durch Umverteilung, und, was noch wichtiger ist, durch Bildung. Und auf dem Gipfel dieser Geschichte haben wir Deutschen sogar – als milde Erben des radikalen Bürger-Industriellen Rathenau – den Satz, dass Eigentum verpflichtet, in unsere Verfassung geschrieben.

Blick in die unteren Klassen

Wovon reden wir, wenn wir von den bildungsfernen Schichten reden? Wenn wir etwas von ihnen verstehen, was bleibt übrig, wenn wir damit beschäftigt sind, Schülerinnen und Schüler in die bestehende Ordnung hineinzuprozessieren?

Hier eine kleine Presseschau

Der Stolz der Arbeiterklasse

Das Existenzminimum ist ein Minimum ist ein Minimum

Die Grenzen der Freiheit

Die sozial geformte Individualisierung

Angsterzeugung als Herrschaftsmittel

»Demokratie geht nämlich nicht nur mit einem Versprechen einer gesellschaftlichen Selbstbestimmung einher, sondern auch mit einem Versprechen einer größtmöglichen Freiheit von gesellschaftlicher Angst. Demokratie bedeutet also den Verzicht auf eine der wirksamsten Herrschaftstechniken überhaupt: der systematischen Erzeugung gesellschaftlicher Angst.«

In einem ausführlichen und interessanten Interview stellt der Psychologe Rainer Mausfeld einen Zusammenhang zwischen Neoliberalismus, Angst (-erzeugung), Demokratie und Macht her. Das wirft Fragen und Anreize zum Nachdenken auf, zum Beispiel: Welche Rolle spielt Schule in diesem Prozess, welche Rolle übernimmt Schulpsychologie und -beratung dabei?

Monothematische Bildung sorgt für Tunnelblick …

… und behindert Handlungsfähigkeit

Noch ist diese Website nicht eingestellt (in der Tat gibt es noch manch Anderes, womit man sich beschäftigen kann) –  dieser Text ist interessant.

Er stammt von Tim Engartner, und darum geht es:

Im Gegensatz zu einer auf Affirmation zielenden ökonomischen Bildung erhebt sozioökonomische Bildung den Anspruch, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen kritisch zu reflektieren. Um den für unser (allgemeinbildendes) Schulsystem konstitutiven emanzipatorischen Anspruch von Bildung einzulösen, bedarf es daher eines multi-, inter- und/oder transdisziplinären Zugangs. Andernfalls laufen Wirtschaftswissenschaften und ökonomische Bildung Gefahr, sich in ihrem selbstreferenziellen System zu verlieren, sodass Lernende in ihren Bemühungen, ökonomische Sachverhalte zu durchdringen, durch modellplatonistische Konstruktionen gehemmt werden.