Vielleicht täusche ich mich. Es schien mir, als sei ich einmal mehr auf einer Veranstaltung gewesen, auf der die Schulpsychologie verdeutlichen wollte: Liebe Bildungspolitiker und Bildungsplaner vergesst nicht die Schulpsychologie, wenn ihr wieder einmal – (es gab ja schon so viele) eure neue, diesmal die inklusive, Schulwelt baut. Wieder einmal wurde das bekannte Material in Stellung gebracht, welches wir haben oder zu haben meinen. Und wieder einmal wurde die Unzeitgemäßheit der Schule und ihrer Planer »bewiesen«, etwa indem Andreas Schleicher seine welt- und empiriegestützten Perspektiven präsentierte.
Einladungen zu Aktionismus, aber auch zu Überforderung: Was könnte »ich«, müsste »ich« nicht alles anpacken, wenn ich ein guter Schulpsychologe wäre? Was es nicht gab: Die Frage nach den Gesprächspartnern in Politik und Verwaltung, nach den dort herrschenden Vorstellungen und Menschenbildern in der inklusiven Schulwelt von morgen. Und die Frage danach, ob denn die angestrebten Umorganisationen (da, wo sie geplant sind) überhaupt sachlich begründbar sind.
In solcher Lage ist es sinnvoll, sich auf den Kern der Schulpsychologie zu besinnen. Und auf ihren dienstlichen, aufsichtlichen, organisationellen Rahmen, den sie braucht, um ihr Potenzial entfalten zu können.
Psychologie in und für Schule (und damit auch für das Kind) hat zum Ziel, die Subjektivität der Beteiligten zur Geltung und in einen produktiven Prozess zu bringen. Damit sind Fragen der Wahrnehmungsweisen, der Emotionalität und Identität gemeint, wie sie sich lebensgeschichtlich ausformen und in den Lehr-Lern-Prozess als Ausgangsmaterial Eingang finden. Eigene Handlungen und Handlungen anderer haben Bedeutungsgehalt, der verstanden und ernst genommen sein will, soll es nicht zu Störungen kommen. Mit diesen Identitäts- und Bedeutungsthemen lassen sich Kommunikationsprozesse erschließen und gestalten. Die Beteiligten erhalten darin Unterstützung, selbst zu Subjekten des Geschehens zu werden.
Lehrkräfte können mit diesen Ansätzen ihre persönliche Geschichte, ihre Berufsrolle, ihren schulischen Kontext und ihr Verhalten gegenüber Schülern, Klassen, Kollegen und Eltern analysieren, integrieren und in eine neue Balance bringen. Lernprobleme bei Schülern können in einen individuellen, lebensgeschichtlichen Kontext, zu dem ihre Familie gehört, integriert werden.
Jedes Lernen muss einen persönlichen bedeutungsvollen Gehalt haben. Entwicklungspsychologisch und sachlogisch müssen die Zonen erreichter und nächstfolgender Schritte berücksichtigt werden. Im Verbund dieser und weiterer Faktoren, kann Schulpsychologie wesentliche Beiträge zum Lernen und zum Erfolg der Inklusion leisten. Schulpsychologie wird auf die individuellen Besonderheiten der Menschen und ihre Lern- und Entwicklungsprozesse aufmerksam machen. Sie kann die Form des Lernens und der Organisationsform des Lernens schulisch-institutioneller Art in ihrer Bedeutung für die Individuen in Erinnerung rufen.
Die Möglichkeit, diese Sicht einzubringen, erfordert eine eigene Verfasstheit ihrer Organisation. Externalität und Neutralität schaffen eine Voraussetzung dafür, dass sich eine Beratungskultur entwickelt und Ausstrahlung hat. Beratung ist darauf angewiesen, nicht in einem Zusammenhang zu existieren, der auf fremdbestimmte Zielerreichung, Leistung im Sinne von Lehrplanerfüllung, Schulzweck, Einvernehmlichkeit mit Schule und Schulpflicht angelegt ist. Sie muss von Schulaufsicht so weit wie möglich unabhängig sein. Sie sollte aufsichtlich an Aufgabengebiete der Schulentwicklung und Fortbildung angeschlossen sein.
Alle Formen der Fusion von Pädagogik und Schulpsychologie sind mit größter Skepsis zu betrachten. Beide haben unterschiedliche Aufgaben, Ziele, Traditionen und Berufssozialisationen. Hier die Organisationsbereinigung zu fordern und vermeintliche Parallelstrukturen anzuprangern führt in die Irre. Die Kulturen von Pädagogik und Psychologie sind unterschiedlich. Die Beratungskultur der Psychologie für Schule wäre beschädigt.
Wie ist es um ein Klima für Entwicklung bestellt?
- Wir wissen, dass Organisationen, Schulen, Kollegien sich dann »auf den Weg« machen, wenn es Hoffnung und Sinn gibt. Diese bestehen nicht zuletzt aus persönlichen Motiven, die angesprochen sein müssen, soll der Organisationsentwicklungsprozess tragen. Was tragen Politik und Verwaltung zu einem Klima für Entwicklung bei?
- Welche »Leerstellen« werden im deutschen Inklusionsbegriff eingelagert sein, wenn das mehrgliedrige Schulsystem »um jeden Preis« erhalten, das deutsche Schulsystem ein Garant für den Schulerfolg durch soziale Herkunft bleibt? Wie wird das die Inklusionsvorstellungen formen und beschädigen? Ein Feld psychologischer Debatten für zukünftige Kongresse!
- Auf welchen Bewusstseinslagen setzt Inklusion auf, welche neuen entstehen, welche Formen nehmen sie an – auch die der Verengung und Erstarrung?
- Und: Ist die Umsetzung der Inklusion eher ein Problem managerialer Steuerung und des Beweises, ein Großprojekt »stemmen« (also ein Kraftbeweis) zu können? Oder haben wir es mit einem ehrlichen und offenen Entwicklungsprozess zu tun, der Vielfalt zulässt und beispielsweise der Schulpsychologie einen Überlebens- und Gestaltungsraum lässt?
Ein anderes, implizites Thema des Kongresses war,
wie und an welchen Stellen er ein Ort der Vermarktlichung und der Akquise »freier« Anbieter war. Zweifellos haben diese dort eine Berechtigung, wo die Externalität eines Beraters (außerhalb von Schule und Schulbehörde) wichtig ist; immerhin mag der Schulpsychologe der Schule extern sein, im günstigen Fall auch der Schulaufsicht, vermutlich aber nicht mehr der Behörde, wenn er angestellt oder beamtet ist. Andererseits aber sind die Budgets der öffentlichen Haushalte nicht groß genug, um einigermaßen umfassend den Bedarf an Organisationsentwicklung durch Externe zu befriedigen. Die Zahl von Treffen wurde schon deutlich zurückgefahren, wie es in einer Veranstaltung hieß. Hier ließe sich darüber nachdenken, in welchem Verhältnis Externe und Interne gemeinsam an OE-Prozessen beteiligt sein könnten. Vermutlich könnten Interne Aufgaben übernehmen, wenn sie durch Beratung und Expertise von außen in ihrer Unabhängigkeit von Externen gestärkt würden. So geschah es bei der Etablierung von Supervision in NRW: Zahlreiche Schulpsychologen, die supervisorisch arbeiten, werden/werden von »freien« Supervisoren supervidiert.
Was in der einen oder anderen Veranstaltung deutlich wurde, war, dass die angestellten Psychologen es möglicherweise schwer haben, Blockaden zu überwinden, sich als Kontraktpartner von Lehrkräften oder Schulleitungen zu sehen. Mit einer externen Firma einen Kontrakt auszuhandeln, die Erwartungen zu klären etc. dürfte für Schulleitungen selbstverständlich sein. Mit entsprechendem Rückgrat aufzutreten mag für den intern arbeitenden Schulpsychologen schwieriger sein, wenn er oder sie sich im Sog einer organisierenden Schulaufsicht sieht, die Hilfe und Zuständigkeit durch die Organisation des Beraters verspricht.
Welche Spielräume für Inklusion, Entwicklungsklima und Beratung lässt eine Schul- und Bildungspolitik zu, die Schule – unter der Einwirkung von Lobbyverbänden – unter betriebswirtschaftlichen Renditegesichtspunkten betrachtet? Schule ist seit Jahren unterfinanziert, ihr wird formal Eigenverantwortlichkeit zugestanden, sie ist aber durch Ressourcenknappheit und fragwürdige Leistungsmessungen und mancherorts durch restriktive Arbeitszeitmodelle gefesselt und in Widersprüche und Paradoxien verwickelt.
Welche Folgen hat es, dass es unter solchen Bedingungen außerordentlich schwer ist, ein professionelles pädagogisches Selbstbewusstsein zu entwickeln – unter anderem als eine Voraussetzung dafür, sich mit eigenen Grenzen und und mit der Einbeziehung anderer Professionen zu befassen? Und wie kann dabei innere Freiheit entstehen, mit der sich Öffnung für Vielfalt, Differenz und Neugier erst einstellen?