Regulieren, steuern, optimieren – ist das die Zukunft der Schulpsychologie?

Anmerkungen zur Emotionsregulation

Emotionsregulation. Das muss ein immenser Markt sein, wenn man sich den Auswurf zu Gemüte führt, der einem entgegenschwallt, gibt man den Begriff in die Suchmaschine ein. Der Zugriff aufs Subjekt treibt die Forscherinnen an. Nun im neuen Gewand und – vielleicht – mit noch größerer Präzision, in technischer, dem Anschein nach neutraler Redeweise.
Die große Zahl der Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigt, sollte aufhorchen lassen. Es verschafft Professoren und Professorinnen Finanzmittel, der Mittelbau erhält Möglichkeiten der Forschung und des Erstellens von Doktorarbeiten, Studentinnen (kaum Männer) finden erste Möglichkeiten, wissenschaftlich zu arbeiten. Was versprechen sie den Geldgebern und Interessenten, was versprechen die sich von diesem Aufwand? Alle scheinen begeistert von den Ergebnissen ihrer Arbeiten. Von den Verwertungsinteressen erfährt man wenig – vermutlich wird jedoch viel Wissen für Lehrerinnen und Lehrer, für Arbeitgeber, vielleicht auch für Eltern herauskommen. So dürften Trainingsangebote, Anleitungen, vielleicht auch Komplettpakete – selbstverständlich wissenschaftlich fundiert und abgesichert – in Arbeit sein.
Emotionsregulation. Das ist ein Versprechen der pädagogischen Psychologie an professionelle und nicht-professionelle Erzieher/innen. Sie, wie auch die Lenker/innen anderenorts in Unternehmen stehen vor der ewigen Aufgabe, die Funktionalität ihrer Einrichtung und ihrer Mitglieder zu gewährleisten, wie auch die ihrer Kunden oder Schüler/innen. Der Anspruch ist, dass die Institution selbst eine Ausgeburt der Rationalität ist und mit Ewigkeitscharakter daherkommt, nur kleinteilig nachgebessert werden muss. Aber in ihrem Kern ist bleibt sie, was sie ist. Nur leider, leider kommt es doch vor – vielleicht sogar häufiger? – dass die Schüler/innen und Mitarbeiter (wenn wir uns auf Schule fokussieren) sich der Rationalität der Institution nicht fügen mögen, können oder wollen – merkwürdig. Nachdenkenswert, eigentlich.
Der Irrationalität der Subjekte wurde schon in der Vergangenheit mit Disziplinierung, Selbstdisziplinierung, Verhaltenssteuerung, Selbststeuerung begegnet. Und natürlich mit Trainings, auch mit dem Trainingsraum (-konzept). Das muss mit einem totalitären Anspruch der Institution(en) zu tun haben, die sich die Individuen einverleibt, einverleiben müssen. Das Geheimnis: Sie haben alle den Anspruch, eine Ordnungsfunktion zu erfüllen, über die kaum gesprochen wird. Nun also Emotionsregulation.
Erstaunlich, wie selten vom Individuum, vom Subjekt, das doch so verehrt wird, gar als Errungenschaft und Zentrum der westlichen Welt gefeiert wird, aus gedacht wird. Wie dysfunktional sind eigentlich „unsere“ Institutionen, ließe sich fragen, gemessen an Fähigkeiten und Bedürfnissen, an Lebenslagen und Lebensgeschichten der Individuen und Subjekte? Wie hermetisch wiederum sind Institutionen, wie Schule, die viel um die Regulation/Disziplinierung/Optimierung ihrer Professionellen und Schüler/innen kreisen? Und nicht um die Rehabilitation der Subjekte?
Es hat nicht den Anschein, als würde eine andere Art des Lehrens und Lernens im Sinne einer Relativierung des Prüfungs- und Bewährungscharakters und als Gegenbewegung eine ernsthafte Individualisierung (also Herausarbeiten der speziellen historischen Psychodynamik von Menschen, nicht gemessen an Normen und Imperativen) angestrebt.
Wie ich kürzlich in einem workshop über „Emotionsregulation“ erleben konnte, ist eine Ausgangslage für die „Notwendigkeit“ von Emotionsregulation, dass nicht selten Eltern und Lehrkräfte überfordert, hilflos oder genervt sind. Nicht selten sind auch Kinder unglücklich über ihre „Defizite“. Erwachsene und Kinder möchten die Emotionen „in den Griff bekommen“.
Kinder können in den Trainings lernen, aufmerksamer für die Vorläufer einer (zu) starken Emotion zu werden. Damit besteht die Chance, dass sie die scheinbar unaufhaltsame Kettenreaktion der Gefühle unterbrechen und sie sie eine andere Richtung einschlagen lassen. Erwachsene und/oder Kinder optimieren die Kinder oder diese sich selbst, reduzieren Konfliktstoff und am Ende steht ein erhöhtes Maß an Einvernehmen und Zufriedenheit – so etwa sind die Motive der Helfenden und Forschenden. Das Wohl der Menschen zu erhöhen und die eigene Nützlichkeit zu erfahren haben einen hohen Belohnungswert.
Dass das „Fehlverhalten“ der Kinder in einem bestimmten, bedeutungsvollen Kontext entstanden ist und nicht nur einen Fehler darstellen muss, der umgelernt werden kann, taucht in den Hypothesen und Analysen kaum auf. Das „Fehlverhalten“ taucht jedoch tatsächlich in einem sozialen Verhältnis von Menschen, in Interaktion auf. In einem Verhältnis von Interessenkonflikten, von Macht und Ohnmacht, von Anerkennung und Anerkennungsmangel. Es geht also vielfach um existenzielle Fragen. Je nach psychischer Verfassung sind das Überlebensfragen, können an die Substanz gehen. Meistens wird das verkannt und „übersehen“ in der auf Funktionalität getrimmten Schule und Gesellschaft. Störungen und Sand im Getriebe könnten uns etwas über Tiefenprozesse und darüber, was da schiefläuft, erzählen. Prägungen und Ausbildungen sind weitgehend so, dass Tiefenprozesse und tektonische Verschiebungen in der psychischen Welt nicht Analyse und Verstehen hervorrufen, sondern Reparaturen an der Oberfläche. Etwa wenn man sagt, dass es einfach darum gehe, umzulernen. Und was sich damit nicht „in Ordnung“ bringen lässt, wird ins Reich der Pathologie verwiesen und aus dem allgemeinen zwischenmenschlichen Verkehr ausgegliedert.
Wir tragen in unserem persönlichen Rucksack Generationenerfahrungen, eine dynamisch vorzustellende Identität, entstanden aus Lebensbewältigung und Körperlichkeit. Dazu gehören auch Emotionen, die uns etwas über unseren Zustand in dieser Welt und in der konkreten Situation signalisieren. Spätestens, wenn ein Kind stört, auffällt, teilt es uns etwas über seine Geschichte und über sein Verhältnis zu dieser Welt mit. Es wäre also dringlich herauszuarbeiten, warum und zu welchem Zweck ein Kind auffällig ist, sich nicht angepasst verhält etc., wenn wir den Anspruch von Individualisierung und Humanisierung der Schule aufrechterhalten wollen. Und nicht zu vergessen: die Störung kann uns auch etwas über den Lehrer und Lehrerrolle und über die Institution sagen. – Es wäre also ziemlich verwegen, wollte man so tun, als könne der oben erwähnte Erfahrungsrucksack für einige an den Toren der Schule einfach abgestellt und ihre „Tafeln“ neu beschrieben werden.

Erwartungen von Lehrern, Aufforderungen zu Leistung und Kooperation können unbeabsichtigte Wirkungen haben. Für Kinder mit unsicheren Bindungserfahrungen, mit geringem Selbstwertgefühl können die Erwartungen und Aufforderungen der Lehrerin einen bedrohlichen Charakter annehmen. Sie können in seinem Bedeutungskontext Bedrohung, Versagen, Verlust ankündigen. Die vermeintlich unzureichende Emotionsregulation kann ein Versuch der Selbstrettung sein – und damit subjektiv sinnvoll: Lieber aggressiv/reizbar als sich der Gefahr einer Beziehung oder Verabredung auszusetzen, an deren Ende „mein“ Scheitern stehen kann. Sich einzulassen schafft Abhängigkeit, die – vielleicht – erfahrungsgemäß in den Abgrund führen kann, weil Beziehung nicht verlässlich trägt.
Es ist damit zu rechnen, dass Trainings zur Emotionsregulation an Lehrer/innen weitergereicht werden. Wie wird die Lehrerin, die guten Glaubens das Training nutzen will, reagieren, wenn sich ein Erfolg nicht einstellen will? Führt das zu vertiefender Analyse oder zur Stigmatisierung des Kindes und seiner Familie? Wie wird eine Lehrerin es verarbeiten, wenn sich das nicht abzeichnet, was sie als Erfolg ansieht? Sie ist in ihren persönlichen Absichten enttäuscht und frustriert – dabei hat sie es doch gut gemeint. Wo geht ihr emotionaler Überschuss hin? Nicht zu vergessen: Mit ihrer Lehrerinnentätigkeit ist sie auch „Funktionärin“ des Schulsystems, sie steckt in Zwängen und Verpflichtungen. Sie selbst arbeitet in Befristungen und sie muss sie exekutieren. Wie offen und haltend kann sie für das schlecht regulierte Kind sein?
Es ist bekannt, dass aggressive, reizbare, zurückgezogene Kinder nicht selten problematische Bindungserfahrungen haben. Ihr störendes, beleidigendes, forderndes Verhalten steht oft mit eben diesen Erfahrungen in Verbindung. Was sie brauchen, ist häufig nicht eine neue Form der Aufforderung zur Selbstkontrolle, sondern ein Gegenüber, dass Provokationen aushält, sie als Kontaktversuch und Probe auf Verlässlichkeit und Stärke deutet. Ein Gegenüber, das bleibt und sich nicht (einmal mehr) in Vorwürfen, Klagen, Ermahnungen oder Strafen auflöst und für Bindung ausfällt. Beziehung und Bindung müssen erst einmal gestiftet werden. Sind sie einigermaßen gesichert, hat vielleicht auch das Kind so viel Sicherheit gewonnen, dass es einer schulischen Anforderung nicht ausweichen muss.
Fazit: Ein Training zur Emotionsregulation ist nicht trivial, und – wenn es die Persönlichkeitsentwicklung fördern soll – nicht billig zu haben. Damit ist gemeint, dass es mehrere Augen braucht, um nicht oberflächlich zu sein und Schaden anzurichten. Die Frage ist, ob die Personen und die Organisation den haltenden Moment (Containment) für geschädigte Kinder bieten kann.
»Kann man denn überhaupt noch irgendetwas machen, ohne von Einwänden gebremst zu werden?«, war die Frage eines Teilnehmers im Workshop. Ich denke ja. Man kann etwas machen, wenn wir nicht den äußeren Schein eines Problems (das unregulierte Kind) und das Funktionierensgebot mit dem Wesen eines „Problems“ verwechseln. Oder anders gesagt: Eine Störung oder eine Irritation steht für etwas, das wir psychologisch entschlüsseln können und müssen. Das geht vielleicht nicht mit den verbreiteten Marketingversprechen anpassender, vermeintlich entlastender Konzepte. Eher schon sollte es mit der (Wieder-) Belebung des Wissens um psychische Prozesse und Bedeutungen gehen, um Identitätsbildung. Und um eine Reflexion der Ordnungsfunktion von Schule und ihrer unterstützenden Systeme. „Emotionsregulation“ könnte sonst ein weiteres Anpassungskonzept werden, wie wir es mit Traingingsraum- (1) und Resilienzkonzept schon haben.

(1) Ludwig Pongratz: Einstimmung in die Kontrollgesellschaft, in Forum Supervision, Heft 44, November 2014, http://www.beratungundsupervision.de

hier geht es zur pdf-version

%d Bloggern gefällt das: