Plädoyer für eine offensive Aufklärung
Debatten über die Ausgestaltung unserer Gesellschaft führen nicht selten zu Pattsituationen. Die politischen Gegner verhaken sich in ihren Argumenten, die eisern mit ihren grundsätzlichen Positionen verknotet scheinen. Die „Einheitsschule“ und die „Elitenschule“ schimmern bei schulischen Debatten rasch hervor. Unausgesprochen werden exemplarisch Debatten geführt, die in die große Abteilung des Streits um Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein, um Herrschaft und Unterwerfung, um Teilhabe und Nichtteilhabe, um Chancen und Chancenlosigkeit, um Gleichheit und Ungleichheit geführt werden. Jenseits des Lagerstreits scheint es keine Bewegung geben zu können. Wobei man doch meinen könnte, dass es eine Mehrheit geben sollte, die von der Schule für alle profitieren können sollte.
Warum gelingt es dann nicht, diese Mehrheit zu mobilisieren?
Binnen kurzer Zeit scheint die Ebene sachlicher Debatte und Suche verlassen. Für interessierte Laien ist es irgendwann frustrierend, die mit Heftigkeit geführten Debatten zu verfolgen. Währenddessen fragt der Laie sich, was er alles nicht weiß, ob er „hier“ noch am richtigen Ort ist.
Und doch beschleicht ihn die Gewissheit, dass im Hintergrund um etwas gefochten wird, was nicht auf die Vorderbühne gelangen kann. Die Debatte läuft sich in den stillgestellten — in Hamburg Schulfriede genannt — gegenläufigen Positionen fest.
Beispiel: Das neue Lehramt für Gymnasial- und Stadtteilschullehrer
Es gibt in Hamburg nach der Grundschule ein Zweisäulenmodell: Gymnasium und Stadtteilschule. Es geht in der aktuellen Debatte um die Erneuerung der Lehrerausbildung für diese zwei Säulen. Die Stadtregierung will ein einheitliches Lehramt für Gymnasiallehrer und Stadtteilschullehrer. (In der Debatte gibt es Positionen, die – mit guten Gründen – in die Einheitlichkeit der Lehrämter auch das Grundschullehramt einbezogen wissen wollen. Das lasse ich hier unberücksichtigt.)
Warum eine Ausbildung für zwei Schulformen?
Der Laie mag davon ausgehen, dass zwei Schulformen angeboten werden, weil sie beide etwas Unterschiedliches wollen und können. Und dass das Maß an Unterschiedlichkeit so groß sein muss, dass dafür zwei Schulformen gerechtfertigt sind. Was ist davon zu halten, wenn nun ein Lehramt angemessen sein soll, um zwei unterschiedliche Schulformen beziehungsweise ihre Schüler’innen zu versorgen?
Die Machbarkeit eines gemeinsamen Lehramts — und seine Sinnhaftigkeit
Anlässlich einer Anhörung beim Schulausschuss beschreibt ein Lehrer in Ausbildung , wie er und seine Kolleg’inn’en gemeinsam daran arbeiten und darin ausgebildet werden, für Schüler’innen unterschiedlicher Lernniveaus, unterschiedlicher Schulformen Unterricht zu veranstalten. Es mache keinen Unterschied, ob die Lehrer später am Gymnasium oder an der Stadtteilschule unterrichteten. Man kann den Schluss ziehen: Die Methode funktioniert für alle Schüler’innen und für alle Lehrer’innen, wenn sie denn entsprechend ausgebildet werden.
Da er ein Beispiel aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich (Shakespeare) ausgewählt hatte, bezweifelte ein Diskutant, dass das auch mit Mathematik funktionieren würde. Der junge Lehrer meinte, wie auch einige Kolleginnen seiner Gruppe, dass es überhaupt kein Problem sei, für den Matheunterricht ähnlich zu verfahren.
Diese Entwicklungen der Unterrichtsdidaktik scheinen wenig bekannt zu sein
Bei skeptischen Eltern, Parteien und „besorgten Bürgern“ (die stellten sich so vor) werden diese Konzepte in der Regel abgelehnt, aus Unkenntnis oder deshalb, weil ihnen „die Richtung nicht passt“. Ihnen will nicht in den Kopf, dass sich in einer Lerngruppe, angeleitet von einem Lehrer mit einer einheitlichen Ausbildung, die Schüler, in welcher Schulform auch immer, gut entwickeln könnten. Auch für den Laien dürfte solch ein Denken seinen Ansichten und Erfahrungen widersprechen.
Sozialisiert in einem Schulsystem mit vielfältigen Separierungen und Konkurrenzen, untermauert mit einer mehrhundertjährigen Tradition von Schul- und Gesellschaftspolitik, scheint es geradezu selbstverständlich zu sein — in einem Sinn von: darüber braucht man gar nicht nachzudenken — Lernen und Lernerfolg in voneinander abgeschlossenen Gruppen zu denken.
Wenn überhaupt, ist man vielleicht bereit, das gemeinsame Lernen und die gemeinsame Ausbildung in „ungefähren“, geisteswissenschaftlichen Fächern hinzunehmen (als Spielwiese, auf die es nicht so genau ankommt); für die (angeblich) rationale Seite des Lebens (betriebswirtschaftlich, kaufmännisch, Informatik), mit der wir (ebenfalls angeblich) unsere Lebensgrundlage sichern, reicht das in dieser Denkweise nicht.
Diesen Skeptikern wird tatsächlich immer wieder Nahrung zugeführt, solange es ein 2-Säulen-Schulsystem gibt. Es ist eine beständige Bestätigung ihrer Ansicht, dass Lernen nur in unterschiedlichen Schulformen vonstattengehen könne. Dagegen helfen nicht anlassbezogene Alternativvorschläge, wie sie von Experten gelegentlich vorgetragen werden. Sie tragen immer den Geruch einer gut gemeinten, letztlich nur moralisch fundierten, romantischen Politik.
Was stattdessen notwendig wäre, ist eine kontinuierliche, von Anlässen unabhängige Information über die Sachgemäßheit einer/zweier Schulform/en und eines Lehramts.
Oder auch eine stichhaltige Begründung, weshalb man bereit ist, ein Lehramt für zwei Schulformen zu wollen. Mit anderen Worten: Die Befürworter’innen der einen Ausbildung (und der einen Schule für alle) dürften nie von der Aufgabe „frei“ haben, ihre Sicht plausibel zu machen. Dazu würde auch gehören, warum man sich unter Umständen, in Widersprüche und Kompromisse begibt. Das ist der Preis dafür, die Selbstverständlichkeit nicht auf seiner Seite zu haben.
Dabei ließe sich auf das Argument des erwähnten Referendars zurückkommen, der richtigerweise sagte, wenn das 2- (oder Mehr-) Säulenkonzept angeblich die Unterschiedlichkeit der Menschen (von der die Befürworter der Mehrsäulenschule immer sprechen) widerspiegele, müsste man für jeden Schüler eine Lehrkraft bereitstellen, die für diesen Schüler die passende Unterrichts-Schulform mitbringe.
Behörde, Gewerkschaften, Verbände müssten kontinuierlich Öffentlichkeitsarbeit betreiben
An den Schulen müssten auch die Eltern über Konzepte des Gemeinsamen im Lernen, Unterrichten und Ausbilden auf dem Laufenden gehalten werden.
Eigentlich ist eine Aussage von Seiten der Behörde folgender Art fällig:
Die Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit können, wollen und sollen lernen. Und die Schule macht es sich zur Aufgabe, sie alle je nach ihrer Eigenart zu „bedienen“. Mit den neuen Didaktiken geht das, so überraschend das auch klingen mag. Die Lehrer’innen sind entsprechend ausgebildet und die Schule ist entsprechend organisiert.
Wer Standpunkte des Gemeinsamen (im Lernen, im Ausbilden) einnimmt und sie in Veränderung münden zu lassen will, müsste auch zur Kenntnis nehmen, welche Probleme es bereitet, in einer Gesellschaft, die nach Wettbewerb, Konkurrenz, Rankings organisiert ist, Schule und Ausbildung in Einheit zu gestalten. Für diejenigen, für die Getrenntheit und Gespaltenheit ihre Machtoptionen verbessert, ist natürlicherweise jede Neigung zum Gemeinsamen ein Angriff, den sie nicht hinnehmen. Frühzeitig Gruppen aus dem Wettbewerb ausschließen zu können schafft einen Vorteil der politisch gewollten ökonomischen Konkurrenzgesellschaft.
Die Wirklichkeit der Spaltung mitdenken, heißt, die Schule politisch denken
In den Debatten über inklusive Ausbildungen und inklusive Schulen müsste die gesellschaftliche Wirklichkeit mitgedacht und mitdiskutiert werden. Das heißt: Es müsste auch von den Kosten der Separation/Exklusion und von den Vorteilen der Inklusion/des Gemeinschaftlichen gesprochen werden. Sich in einem 2-Säulen-Gefäß um eine Praxis des Gemeinschaftlichen zu bemühen, dürfte immer in einer Malaise enden. (Wie ein richtiges Leben im falschen kaum zu erreichen ist.)
Das 2-Säulen-Modell zu propagieren (oder es stillschweigend hinzunehmen und eine 1-säulige Ausbildung zu wollen (abgesehen vom Grundschullehramt, Sonderschullehramt), ist eine Einladung zu Fragen und Zweifeln. Die einen wittern eine Aufweichung des 2-Säulen-Modells und eine Politik der Lüge (wie die „besorgten Bürger“). Die anderen sehen vielleicht eine Option für die Durchsetzung eines inklusiven Ansatzes, wobei sie aber damit rechnen müssen, immer wieder von den Zweifeln und Vorwürfen der Kritiker zurückgeworfen zu werden. Will man sich nicht in solchen Händeln verstricken und verkämpfen, scheint es mir möglich und notwendig, einen Standpunkt „außerhalb“ einzunehmen, der die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihre Widersprüche artikuliert, über einen aktuellen Anlass hinaus. Das hieße, anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzen, dass schulisch-kulturell nicht das aufgefangen werden kann, was gesellschaftspolitisch-strukturell seit 1918 an Demokratisierung und Gleichheitsanspruch versäumt wurde und wird. Das ist dann eine andere Geschichte.