Am 25.1.2019 machte die taz-Hamburg mit der Schlagzeile auf: »Psycho-Druck gegen Klassenkasper« . Die Autorin der taz bezog sich auf einen Artikel, der im ersten Quartal 2018 im Magazin der Schulbehörde »Hamburg macht Schule« erschienen war, geschrieben von zwei pädagogischen Experten, die das Konzept »Neue Autorität« seit Jahren in Hamburg zu entwickeln versuchen. Sie sind Lehrer und Mitarbeiter am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, sowie freie Supervisoren, Coaches, Trainer. Das Konzept befindet sich seit Jahren in kritischer Diskussion (zum Beispiel Dierbach).
Politik diskutiert mit
Neu ist, dass mit Sabine Boeddinghaus eine Schulpolitikerin (der Linksfraktion) sich in die Debatte einschaltet. Die Vorwürfe wiegen schwer: Junge Lehrer würden »in die falsche Richtung gepolt«, das Konzept sei ein »Psycho-Rohrstock«, »repressive Maßnahmen« kennzeichneten das Konzept (Zitate aus der taz). Genaueres lässt sich auch in der Kleinen Anfrage an den Senat nachlesen.
Handlungsfähigkeit und Ordnung
Nun werden sich manche fragen, was es an einem Konzept zu kritisieren geben soll, welches es Lehrerinnen und Lehrern erleichtert, Ordnung aufrecht zu erhalten und durchsetzungsstark zu sein und auch noch die Kollegialität stärken soll. Nicht selten erleben Lehrer’innen sich Kindern und Jugendlichen ausgeliefert, ohnmächtig und von Schulleitungen, Behörden, unterstützenden Institutionen und von Kolleg’inn’en im Stich gelassen. »Die-oder-ich« beschreibt nicht selten die innere Lage. Der Bedarf an Handlungsfähigkeit und Ordnung ist also vorhanden. Da kommt »Neue Autorität« gerade recht.
Trend zu Autorität
Für Lehrer’innen und Behörde scheint das Konzept ein Gewinn zu sein. Den einen gibt es Handlungsfähigkeit und psychische Stabiltät, der anderen bietet es das Versprechen auf geordneten Schulbetrieb. Gesellschaftlich liegt mehr Autorität zu wagen, seit Jahren im Trend, als Gegenbewegung zu angeblich überbordenden Freiheiten und Zügellosigkeiten, dabei tiefere Ursachen, wie Ökonomisierung, Degradierungsprozesse außer acht lassend. Ist das Konzept der »Neuen Autorität« Teil des Versuchs Erosionsprozesse repressiv auf Kosten demokratischer und emanzipatorischer Ansprüche wieder unter Kontrolle zu bringen? Verträgt es sich mit pädagogischen und psychologischen Ansprüchen der Persönlichkeitsentwicklung, der (Selbst-) Kritikfähigkeit?
Es scheint eine bekannte Übung zu sein, dass sich an pädagogischen Themen immer mal wieder gesellschaftlicher Zündstoff entflammt. Repression oder Emanzipation wurden ebenfalls behandelt, als es um Konfrontative Pädagogik und Erziehungscamps ging.
Offensichtlich sind Kinder und Jugendliche, die nicht unter Kontrolle zu bringen sind, immer noch ein Problem. Warum eigentlich sind sie immer noch widerständig, aggressiv, sabotieren die Erziehungsabsichten der Erwachsenen? Sind wir weitergekommen mit den Lebenslagen von Jugendlichen, ihren Erfahrungen von Teilhabe und Ausschluss, ihren Verunsicherungen? Und – nicht zu vergessen – was ist mit den Schulen los? Sind wir weitergekommen mit der Schule, die einerseits integrieren, aber andererseits auf das Leben vorbereiten soll, das von Marktkonformität und Ökonomisierung gezeichnet ist?
Das Konzept der Neuen Autorität
Im Behördenmagazin »Hamburg macht Schule« stellen Dietmar Otto und Olaf Hansen ihr Verständnis des Konzepts der »Neuen Autorität« vor. Man sollte ihnen zugute halten, dass sie sich vom »schneidigen Weg des ›Richtig-oder-Falsch‹ oder ›So geht’s‹ « fernhalten, dass sie eine beharrliche, präsente Begleitung sein wollen. Ich vermute keine bösen Absichten, zweifle jedoch, ob der Kontext von Schule so beschaffen ist, dass sich hinter dem Rücken der guten Absichten, nicht doch „Böses“ einschleicht.
In der Beschreibung bekomme ich den Eindruck, als stünden sich dort zwei Personen in aller „Reinheit“ gegenüber, befreit von gesellschaftlichen, sozialen und historischen Einflüssen. So mögen sich die Beteiligten unmittelbar erleben. Es ginge jedoch darum, die Kontexte zu analysieren und zu verstehen, was dort ausgetragen wird, was die Ereignisse bedeuten. Alles andere wäre »Gesellschaftsblindheit«, ein Begriff den Heiner Keupp benutzt, um den Rollback emanzipatorischer Ansätze in Psychologie und Pädagogik zu beschreiben. Hier liegt vermutlich eine der Schwächen des Konzepts der »Neuen Autorität«, es sei denn, es sei darauf angelegt, soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge unserer Existenz und Umgangsformen zu relativieren. Pädagogische und psychologische Konzepte sollten nie ausblenden, dass sie in ganz konkreten Machtverhältnissen stattfinden.
Normierende Instanzen im Unklaren
Offensichtlich gibt es eine verborgene, normierende Instanz, die definiert, was beispielsweise »destruktiv« und wer »destruktiv« ist. „Darüber“ sollten sich alle einig sein, ist die Botschaft – oder? Wo bleiben im Konzept die „destruktiven Verhältnisse“ , in denen Menschen, wie Schülerinnen, Lehrer und andere destruktiv werden? Und wie gehen sie in die Rechnung der Verbesserungsversuche ein? Ohne hier auf die formelhaften Ansprachen der Lehrerin des Beispiels eingehen zu wollen, lässt sich fragen: Was verbirgt sich hinter der Pflicht, auf die sie sich beruft? Wie ist sie abgeleitet, affirmativ oder vielleicht doch emanzipatorisch?
Im günstigen Fall nimmt der Schüler eine Ansprache der Lehrerin als konstruktives Beziehungsangebot wahr, in das allerdings zahlreiche Annahmen eingehen, die unbewusst oder unreflektiert bleiben und damit Zündstoff für Eskalation liefern können. Wir erfahren nichts davon, ob sich die Ansprache irgendwann und falls ja, unter welchen Bedingungen, zu einem reflektierenden Gespräch mit welchen Ambitionen weitet.
Destruktivität als Lösungsversuch
Man gewinnt – zumindest aus den nachlesbaren Fallbeispielen – den Eindruck, dass die Pädagoge’Inn’en das »destruktive Schülerverhalten« für eine Art schlechten Benehmens halten, das aus mangelnder Übung entstanden ist. Wie sonst wäre zu erklären, dass an keiner Stelle der Gedanke auftaucht, dass sich im so genannten destruktiven Verhalten etwas zeigen könnte, das keinen anderen Weg der Artikulation findet? Dass es sich um den Lösungsversuch für ein Problem handeln könnte? Wir können wissen, dass „üble“ Verhaltensweisen aus psychischen und physischen Verletzungen, aus Verrats- und Verlusterfahrungen hervorgehen und in „Ver-rücktheit“ münden können. Nun würde ich nicht verlangen, mit dieser Interpretation den Schutz von Lehrer’inne’n und Kindern aufgeben zu sollen. Der ist legitim und verdient es, offen benannt und praktiziert zu werden. Sich darauf zu beschränken, hieße allerdings, in verkürzte Diagnosen und Schuldzuweisungen abzugleiten – mit dem (vielleicht ungewollten) Endpunkt, Repression, Drohung, oder Beschämung salonfähig zu machen.
Neue Autorität – eine Form der Bindung?
Im günstigen Fall könnten Präsenz und Beharrlichkeit so etwas wie Containing und Halten im Sinne einer Bindungstheorie darstellen. Vielleicht geht darauf ein Teil der berichteten Erfolge zurück. Die Frage bleibt allerdings, wie stabil Effekte sein können, wenn »Neue Autorität« sich nicht als Bindungsarbeit versteht. Zumindest haben die Autoren darauf meines Wissens keinen Bezug genommen. Ohnehin wäre zu überlegen, ob und wie Bindungsarbeit unter schulischen Bedingungen stattfinden kann. Zu denken ist hier an Qualifikation, Rollenkonflikten, Rollendiffusionen, Kontinuität.
Dass die Machtfrage im Konzept der »Neuen Autorität« noch nicht ausreichend beachtet ist, zeigt sich meines Erachtens auch daran, dass – zumindest symbolisch – Lehrkräfte in der Frage des gewaltlosen Widerstands, der der »Neuen Autorität« eigen sein soll, mit Mahatma Gandhi und Martin Luther King auf eine Stufe gestellt werden. Wem entsprechen dann die »destruktiven« Schüler’innen? Die Frage ist aufgeworfen; weiter verfolgen möchte ich sie hier nicht.
Lehrer’innen sind Funktionäre und Bedienstete einer mächtigen Behörde und eines mächtigen Staates. Es sind die Schüler’innen, die aufgrund einer Schulpflicht in die Schule gehen müssen. Die Lehrer’innen haben sich aus eigenem Entschluss in die Obhut des Staates begeben. Dass das nicht das Hauptmotiv vieler Lehrer’innen ist, will ich gern zugeben, muss aber doch bei einer Beurteilung der Verhältnisse berücksichtigt werden. Sie sind nun auf widersprüchliche Weise, ihre pädagogischen, guten Absichten stelle ich nicht in Frage, gebunden; häufig, ohne sich dessen bewusst zu sein, wie sie damit umgehen sollen, Gutes tun zu wollen und gleichzeitig Teil staatlicher Ordnungsfunktion sein zu müssen. Man kann erkennen: Von institutionellen und persönlichen, motivationalen Dynamiken und Bindungen absehen zu wollen kann einen in den unangenehmsten „Kladderadatsch“ führen.
Neue Autorität auf der Seite der Ordnungsfunktion?
»Neue Autorität« scheint geeignet zu sein, die unerledigten Widersprüche im Lehrer, in der Lehrerin und im Verhältnis zum Schüler „glattbügeln“ zu können. Das muss nicht unbedingt mit der Stärkung des Subjekts zusammenlaufen, welches Lehrerinnen und Lehrer im Glauben an die eigenen humanen Ziele und Zwecke, im Glauben an die Präambeln der Verfassungen, zu entwickeln hoffen. Die Behörde wacht über die Ordnungsfunktion und so dürfte ihr die »Neue Autorität« zupasskommen, bietet sie damit Lehrer’innen die Möglichkeit, Kontrolle (zurück-) zu gewinnen und sie aus subjektiver Not zu befreien. Bei der Gesamtanlage von Schule als „Disziplinaranstalt“ (man mag dafür mal bei Foucault oder bei der Kriitschen Psychologie nachschauen) bleibt natürlich die Frage, ob damit die Not des Schülers, der Schülerin behoben wird. Das bleibt so zweifelhaft, wie eh und je. Zu vermuten ist, dass die »Neue Autorität« ein weiteres Instrument ist, Menschen in eine bestehende, nicht in Frage zu stellende Funktionalität „hineinzuprozessieren“. Eine betrübliche Entwicklung, der sich unbemerkt und unkritisch auch immer mehr Beratungsstellen anschließen. Damit wird die Ordnungsfunktion gestärkt, was nicht zusammenfällt mit einer Emanzipation der Subjekte. War Schule je anders? Damit müssen wir uns alle auseinandersetzen und nicht nur in Bezug auf »Neue Autorität«
Asymmetrische Verhältnisse
Vielleicht trägt ein Aufsatz, der sich nur wenige Seiten vor dem über »Neue Autorität« im selben Heft von »Hamburg macht Schule« findet. Dort heißt es auf Seite 6 ff.:
Die Schule basiert immer noch auf asymmetrischen Machtverhältnissen, partiellen Grundrechtseinschränkungen (z.B. beim »Recht auf Freizügigkeit«) und schließt die Hauptgruppe, um derentwillen sie da ist – die Schülerinnen und Schüler – aufgrund ihres gesellschaftlichen Funktionsauftrages zur Bildung und Erziehung in der Regel aus: Die organisatorischen Grundlagen der Schule – Personal, Finanzen und Inhalte – sind der Mitbestimmung der Lernenden weitestgehend entzogen.
Die Überlegung der Asymmetrie lässt sich problemlos auf den Vorschlag anwenden, die Ideen der »Neuen Autorität« auch zum Inhalt eines Führungsverständnisses zu machen. Sich der Notwendigkeit bewusst, dass »Neue Autorität« einen organisationellen Kontext und ein bestimmtes Führungsverhalten braucht, legen die Autoren Empfehlungen Lehrer’innen und Leitungen bei:
Das erfordert einen hohen Grad an Reflexionsfähigkeit der Akteure so wie die Bereitschaft, sich als Mitglied einer Gemeinschaft zu sehen, die Stärke und Legitimität aus der gegenseitigen Unterstützung schöpft.
Jeder möge »mit dem Finger am Puls der Organisation« sein.
Subjektivierungsstrategien als Leitungskonzept
Damit knüpfen sie nahtlos an Führungskonzepte an, die den Angestellten geistig-moralisch zum verantwortlichen Unternehmer seiner selbst und des Unternehmens Schule machen möchten, ohne dass er/sie selbst die Mittel, Möglichkeiten, Rechte und und Verfügungsmöglichkeiten dafür hat. In der „normalen“, durchökonomisierten Arbeitswelt läuft das unter „Subjektivierungsstragtegie“. Ein Türöffner für Selbstausbeutung und Burnout, wenngleich am Beginn Aufbruch und Kreativität stehen mögen.
»Neue Autorität« müsste sich einer Reflexion der Machtverhältnisse und Abhängigkeiten stellen, wie auch der Rolle der Schule in einer spaltenden, marktkonformen Gesellschaft, und was das für Schüler’innen und für Lehrer’innen bedeutet. Es hieße, damit umgehen zu lernen, dass sowohl Schüler’innen als auch Lehrer’innen „Machtunterworfene“ sind. So reflektierend aufgestellt, könnte »Neue Autorität« ein erster Schritt sein, der mehr ist als ein Hineinprozessieren in die bestehenden Verhältnisse. Denn zweifellos brauchen auch Subjektentwicklung und Emanzipation einen Ordnungsrahmen.