Über das neu-alte lineare Denken, das nur vermeintlich außer Kraft gesetzt war
Mit Bürokratie schlägt man sich herum, man liebt sie in der Regel nicht und man empfindet sie nicht als Segen. Tatsächlich aber ist die Erfindung der Bürokratie eine, die in der Tradition der Demokratie, Gleichheit und Emanzipation steht. Sie sollte vor der Willkür absoluter Herrscher schützen.
Die Theorie, wohlwollend gedacht, war: Wenn man sich „oben“ einmal das Richtige ausgedacht hatte, käme es so wie gedacht unten beim Bürger und der Bürgerin an. Ebenfalls wohlwollend gedacht: Entscheidungswege und Funktionsketten konnten sichtbar(er) und damit kontrollierbar(er) werden. Willkürliche Beimischungen sachfremder Interessen sollten unterbleiben. Ob es jemals so funktioniert hat, darf man bezweifeln. Ergebnis: Zuwachs an Demokratie.
Ob mit New Public Management und den in seinem Namen durchgesetzten „Reformen“ der 1990er und folgenden Jahre eine Demokratisierung und Einbeziehung der Subjekte stattgefunden hat, darf man ebenso bezweifeln. Aber die Revolution von oben war erfolgreich: Viele in den Verwaltungen und Unternehmen machten mit, hofften, das Projekt Selbstverwirklichung und Effizienz voranzubringen.
Tatsächlich, so meine Vermutung und Hypothese ist das Obrigkeitsdenken nie abgeschafft worden. Es wurde modernisiert, den Herrschaftsinteressen angepasst, zum Schaden der Allgemeinheit.
Dieser Verdacht wird gestärkt durch einen Artikel, den Matthias Schrappe vor Kurzem für den Cicero schrieb.
»In dieser Situation kam „Corona“. Im Jahr 1992 war das Bundesgesundheitsamt in „Robert-Koch-Institut“ umbenannt worden, eine Hommage an den großen Forscher, aber auch ein Rückgriff, so muss man heute erkennen, auf die Strukturvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Denn was ist (nicht) geschehen? …«
» … 1150 Mitarbeiter, knapp die Hälfte davon Akademiker, blieben auf ihren Sesseln sitzen, sammelten Meldedaten, von denen alle Fachleute wussten, dass sie nichts taugten (außer den Meldeeifer widerzuspiegeln), veröffentlichten Appelle (und änderten sie nächtens), steigerten die Bedrohungsszenarien, statt sich kompetenter Krisenkommunikation zu bemüßigen, waren nicht in der Lage, eine Epidemie als komplexes System zu begreifen und entsprechend zu handeln.«
Fatal: Die Re-Installierung linearen Denkens
» Wir waren über Jahrzehnte darauf hingewiesen worden, dass das einfache Oben-Unten, das einfache Durchregieren, die Person als Rädchen nicht der Weisheit letzter Schluss sei. Mitarbeiter wurden aufgerufen, die Chefs zu kritisieren, und Projektstrukturen kennt wohl jeder zur Genüge – doch jetzt gaben wir uns mit reinen Top-down-Anweisungen zufrieden. Masken bei Windstärke 5 – kein Problem. Schulen monatelang schließen und Kinder zu Hause betreuen – kein Problem. Ausgangssperre (und sich zu Hause infizieren) – genauso wenig ein Problem. Die öffentliche Diskussion zum Thema zeitgemäßes Pandemie-Management, das sich an modernen Strukturvorstellungen orientiert und den Bürger als selbständig denkendes und handelndes Individuum wahrnimmt, eine solche Diskussion fand nicht statt. [Hervorhebung JM] Statt Diskussion Vereinfachung: Täglich die RKI-Zahlen zur Kenntnis nehmen, einen Podcast aus der Charité hören, das reicht. Willkommen in der linearen Zufriedenheit.«
Das betrübliche Fazit: Plötzlich (wirklich?) waren alle Leitlinien der angeblichen Modernisierung dahin.
»Allerdings ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass sich diese Neigung zu einfachen Lösungen verstetigt und uns noch beschäftigen wird, wenn die Corona-Pandemie längst in ihre endemischen Ebenen abgetaucht ist. Das wichtigste Indiz ist das Umgehen mit der Ukraine-Krise.«
Hier Matthias Schrappes Artikel im Cicero
Matthias Schrappe hat zur Pandemie und ihrem Management mit einer Autorengruppe mehrere Adhoc-Stellungnahmen herausgebracht. Die jüngste ist hier nachzulesen. Sehr ausführlich und insbsondere Kinder und Jugendlich beachtend ist die Stellungnahme 8.