Aggressive Abschottung der Eliten im Namen der Gerechtigkeit und der Wissenschaft

Es stockt einem der Atem,

wenn man die Kampagne der Initiative „Wir wollen lernen“ verfolgt und wenn man erlebt, in welch großer Zahl Hamburger Bürger das Volksbegehren gegen die Schulreform in Hamburg unterschrieben haben. Bei genauerer Betrachtung wird aber auch deutlich, dass die Befürworter einer Schule mit mehr gemeinsamem Lernen Fehler gemacht haben und machen. Ohne eine tiefgreifende Analyse und ohne eine Bildungsbewegung wird das Schulsystem in der Sackgasse bleiben. Eine Meinung von Jürgen Mietz.

Schulreform – immer nur halbherzig und nie demokratisch?

Bildungspolitik muss Bewegung werden – oder sie ist nicht

Seit PISA hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass das deutsche Schulsystem die Besonderheit des Einzelnen im Lernprozess erkennen muss. Es muss gerechter und durchlässiger werden, wenn die Gesellschaft in der Lage sein will, die vor uns liegenden sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Wissen und Können, aber ebenso vernetztes und vernetzendes Denken, Verantwortungsgefühl, Kooperation, Abschätzen von Folgewirkungen persönlichen, wirtschaftlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Handelns sind gefragt. Das Schulsystem muss auf diese Herausforderungen vorbereiten, nicht zuletzt dadurch. dass es diese Tugenden praktiziert.

Dass die soziale Herkunft wichtigster Prädiktor für Bildungserfolg ist, ist ebenso beunruhigend, wie die Tatsache, dass ein hoher Prozentsatz von Schülern und Schülerinnen in der Schule scheitert und sie mit Lernen und Bildung nicht die Erfahrung von Zugehörigkeit und Teilhabe an der Gesellschaft verbinden.

Diese Überlegungen sind nicht besonders originell. Man hört sie von Politikern bei vielen Gelegenheiten, gern verbunden mit Bekenntnissen zur Bildungsrepublik und zur Förderung unseres wichtigsten Rohstoffs, eben der Gehirne der Jugend. Für die Praxis der Umgestaltung der Schulsysteme in Deutschland allerdings scheinen die Überlegungen keine Rolle zu spielen. Auf die Mängel des Schulsystems wie sie durch PISA einer großen Öffentlichkeit bekannt wurden, haben die Kultusminister mit Straffungen und Standards reagiert, mit Versuchen, einem vermeintlichen Schlendrian durch Disziplinierung beizukommen. Es fiel ihnen – im bereitwillig übernommenen und selbst von ihnen weiter verbreiteten Diktat des Neoliberalismus – nichts anderes ein, als auf Elemente der Marktförmigkeit und des Wettbewerbs zu setzen, und damit auf Gleichförmigkeit und Industrialisierung dessen, was dann beschönigend die Bezeichnung »Bildung« trägt. – Wie sehr Standardisierung und Straffung den verkündeten Zielen von Individualität und Kreativität entgegenstehen, scheint ihnen nicht bewusst zu werden. Unter Federführung der nur angeblich gemeinnützigen Bertelsmann-Stiftung, überließ man dieser Einrichtung die Bildungsplanung.

Nicht zur Disposition stand und steht, dass Bildung und Schulabschlüsse in Deutschland (mit Ausnahme der DDR-Jahre, aber dort nach ihrem Beitritt zur BRD wieder eingeführt) länger als in anderen Gesellschaften Ausdruck eines ständischen, antidemokratischen Gesellschaftsverständnisses sind. Die Undurchlässigkeit des Schulsystems nach oben und die soziale Herkunft als entscheidendes Merkmal für den Bildungserfolg, wie sie in Deutschland herrschen, zeigen die feudalen Zustände an. In Deutschland kann man sich nicht dazu entschließen, die ständischen Elemente im Schulsystem aufzugeben, das Schulsystem zu demokratisieren und es zu einem gemeinsamen Projekt der Zukunftsbewältigung zu machen. Eher wurde und wird die Modernisierungsnotwendigkeit dafür genutzt, das selektierende und hierarchisierende Schulsystem zu stärken, die Schichten und Klassen entgegen aller Vernetzungs- und Kooperationsrhetorik – nun »modern« – voneinander abzugrenzen. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass Mittel für Reformen entgegen allen Beteuerungen verknappt wurden (oder sie buchhalterisch hochgerechnet werden und es weder in Schulen noch in der Gesellschaft eine inhaltliche Diskussion auf breiter Grundlage darüber gab, wozu wir Bildung brauchen und was sie uns wert ist. Kleingeistig und ohne Weitblick wird auf Geldmangel verwiesen, gebetsmühlenartig wird jenseits aller Fachlichkeit und Beobachtung realer Lern- und Lebensprozesse das Mantra wiederholt, Privatisierung, Standards und ihre Messung, würden das Bildungsniveau heben.

Schulreform in Hamburg

Es gibt in den deutschen Ländern kleine Ansätze zu Schulreformen. (Eine Übersicht findet sich hier: Schulstrukturübersicht Friedrich-Ebert-Stiftung und hier: Schulstruktur Merkelbach) Am weitesten geht der Reformversuch, der von der CDU-GAL Regierung in Hamburg auf den Weg gebracht wurde – und vermutlich schon wieder gescheitert ist. Das gemeinsame Lernen soll auf sechs Jahre verlängert und damit der Zeitpunkt der Wahl der Schulform zwei Jahre »nach hinten« verschoben werden, weil nach allen Erkenntnissen sich verlässliche Aussagen über die Lernentwicklung kaum nach vier Jahren (allerdings auch nicht nach sechs Jahren) machen lassen. Das Gymnasium bleibt erhalten, daneben wird die so genannte Stadtteilschule gestellt, in der die Gesamtschule, die Haupt- und Realschule aufgehen. Die Förderschulen sollen allmählich aufgelöst und die Kinder mit Behinderungen und Beeinträchtigungen sollen inklusiv unterrichtet werden.

Auch diese geplante Reform ist schon ein Kompromiss und nicht zu vergleichen mit dem, was in anderen Ländern Standard ist. Gemeinsames Lernen – von der Möglichkeit her mit dem Erleben der Unterschiedlichkeit eine Einübung in gesellschaftliche Praxis, in der Einfühlungsvermögen einen konstitutierenden Platz hat – findet nicht während der gesamten Pflichtschulzeit statt. Es gibt nicht die eine Schule, die mit ihrer Praxis auf den Zusammenhalt der Gesellschaft orientiert, sondern neben das Gymnasium wird die Stadtteilschule (aus Gesamtschule, Haupt- und Realschule, wie auch vermutlich aus Teilen der Förderschulen) treten.

Das Begehren des Volkes – nicht mit mir

Gegen das Hamburger Minimalmodell hat sich eine Elterninitiative gebildet, die das Gymnasium in Gefahr sieht und es versteht, das Gymnasium als Leuchtturm deutschen Bildungswesens zu präsentieren. Mit großem Erfolg hat sie ein Bürgerbegehren gegen die Schulreform auf den Weg gebracht. Wo 60000 Unterschriften für einen Erfolg gereicht hätten, hat sie 184000 Unterschriften gesammelt. 250000 wären bei einem Bürgerentscheid, der kommen könnte, wenn die Parteien in der Bürgerschaft nicht einen neuerlichen, die Substanz der Reform untergrabenden Kompromiss finden sollten, erforderlich, um die ganze Reform zu kippen.

Zweifellos versteht sich die Initiative darauf, ihr Anliegen wirksam an die Öffentlichkeit zu bringen und Druck auf die Politik zu machen. Sie ist sehr gut organisiert und mit allen Kampagnenwassern gewaschen. Bei der Sammlung der Unterschriften konnte man durchaus Zweifel haben, wie lauter die Methoden waren, um an die Unterschriften zu gelangen. Wenn die Manager von Einkaufszentren den Gegnern der Reform erlaubten, in den Zentren zu sammeln, so verweigerten sie dies den Befürwortern. Nicht selten war es so, dass Menschen, die unterzeichneten, nicht wussten, was sie unterschrieben haben, wie Nachfragen ergaben. Der Vorsitzende der Initiative war sich nicht zu schade, die Schulreform in die Tradition der NS-Pädagogik zu stellen – wofür er sich entschuldigen musste. Wer weiß, vielleicht hat ihm das gar nicht geschadet, sondern genutzt. Kommt doch einem latent reaktionären Denken, wie es sich in Teilen der Gesellschaft ausbreitet, ein »starkes« Wort gelegen.

Diese Ereignisse sagen etwas über das Klima aus, in dem die Schul»debatte« stattfindet und stattfand. Von einer Debatte über schulische Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme sind wir weit entfernt.

Was läuft falsch in der Reformdebatte?

Das eigentlich Frappierende des Erfolgs der Initiative liegt darin, dass es nicht nur die so genannte Gucci-Fraktion aus den Elbvororten und dem Alstertal gewesen sein kann, die die Unterschriftenzahl hat in die Höhe schnellen lassen. Der Reformwillige staunt, dass Menschen sich für die Konservierung eines spaltenden, restaurativen, ständischen Schulsystems mobilisieren lassen, welches weder ihnen, ihren Kindern noch der Gesellschaft einen Nutzen bringt. Aber stimmt das? Haben nicht große Teile der Unterschreibenden nicht vielleicht ein explizites oder intuitives System- und Institutionswissen darüber, wie Bildung oder besser: wie auf Aufstieg oder Statuserhalt durch Schule in Deutschland funktioniert? Vielleicht kann man einmal die Gesamtschullehrer fragen, die ihre Kinder aufs Gymnasium gehen lassen.

Es schlägt auf die Grünen und auf Teile der CDU zurück, die die Reform wollen, dass im Vorfeld die Aufklärung über die Schulreform, über ihre Ziele und ihre Bedeutung unzureichend diskutiert wurde. Wohl ging es bei der Vorbereitung der operativen Seite der Reform demokratisch zu, wie wohl in keinem anderen Bundesland, wenn dort Reformen auf den Weg gebracht wurden. Jedoch konnte die inhaltliche Seite, das Warum und Wozu und die personellen und sonstigen Bedingungen nicht mithalten. So konnten die Gegner der Reform auf den Überdruss setzen, den der Begriff »Reform« auslöst. Dass »die da oben« immer etwas aushecken, was ganz bestimmt nicht »mir« nutzt – diese Stimmung konnte »endlich« mal in eine Kampagne einmünden, die von Medien und den gewitzten Reformgegnern veranstaltet wurde. Wenn die Koalition aus CDU und Grünen nach dem Schreck sagt, dass die Bevölkerung besser informiert werden müsse, lässt sich leicht von den Gegnern erwidern, dass die Koalition die Leute für zu blöd erklärt – und schon stehen die Befürworter ein weiteres Mal blamiert da.

Hätte man sich eine längere Phase der Diskussion gegönnt, die der Information und Meinungsbildung und der Aufdeckung von »Problemzonen« gedient hätte, wäre man vielleicht darauf gekommen, dass nicht nur die standesbewussten Eliten ein Interesse am Erhalt des Gymnasiums und einer frühen Separierung haben könnten, sondern auch Aufsteiger und Abstiegsbedrohte: Sie wollen ihre Kinder möglicherweise ebenfalls von den Schmuddelkindern getrennt sehen, weil sie sich davon eine Sicherung ihres bedrohten Status erhoffen oder eine Verbesserung desselben. Zudem hat der Zulauf zum Gymnasium als Garant der Sicherung von Aufstieg und gesellschaftlicher Position in den letzten Jahren so stark zu zugenommen – weil von keiner Partei ernsthaft die bildungspolitischen Sackgassen angesprochen und eine Wende gewagt wurde. So konnten diejenigen, die sich für den Weg des Gymnasiums entschieden haben oder entscheiden wollen, noch den Eindruck gewinnen, ihnen sollte das vorenthalten werden, was andere sich genommen haben. Nun will man sich erst recht nicht von der Aufstiegsroute abbringen lassen, die doch andere schon so erfolgreich erklommen haben.

Wer die bisherige Flickschusterei und Halbherzigkeit der Bildungspolitik, kennt, der mag nun Zweifel haben, dass die Operation dieses Mal ein großer Wurf, eine Wende werden könnte. Zumal sich neue Hindernisse auf dem Reformweg erahnen lassen: Gebäude, die nicht zu den neuen Strukturen passen, Pendelfahrten von Lehrern und Lehrerinnen der Gymnasien zu den Primarschulen, die nicht Teil der Primarschulkollegien werden. Unsicherheiten über die Personalversorgung.

Man mag diese Schwierigkeiten als »nur« auf der organisatorischen Ebene angesiedelt sehen. Jedoch knüpfen sie an Erfahrungen mit Schulentwicklungsmaßnahmen an, die Kindern, Eltern und Lehrern als Belastung und als Missachtung in Erinnerung geblieben sind. So kann leicht ein »Reformchaos« an die weiße, vermeintlich unschuldige und interessenneutrale Wand der Reformgegner gemalt werden.

Was skeptisch macht ist, dass bei den Reformgegnern nicht zu erkennen ist, wie sie sich zu den individuellen und gesellschaftlichen Folgen stellen, die dieses Schulsystem hat. Wie wollen sie einen verkürzten, von Konkurrenz geprägten Leistungsbegriff überwinden, was halten sie von einer Schule, die »ihre« Erfolge zu einem wesentlichen Teil daraus bezieht, dass viele Schüler außerhalb der Schule Nachhilfe benötigen und Eltern das finanzieren können müssen, dass dieses Schulsystem ganze Kohorten von Schülerjahrgängen abhängt und zu potenziellen Außenseitern der Gesellschaft macht, weil diese sie über das Schulsystem ausliest? Die Eliten sollten es nicht auf sich sitzen lassen, dass sie mit den dunklen Seiten des Bildungssystems einverstanden sein könnten, weil so Konkurrenz aus dem Felde genommen wird.

Wissenschaft und ihr Schein

Die Reformgegner machten von Anfang an Front und Attacke. Sie, die bis dahin nicht als deren Fürsprecher in Erscheinung traten, entdecken die Bedürfnisse der Benachteiligten, wenn sie glauben, damit ihr System bewahren zu können. So hätten die Kinder im neuen Konzept nicht die Chance, ihren Stadtteil, ihr Milieu verlassen zu können, indem sie auf ein Gymnasium wechseln. Auch wird eine drohende Lehrerknappheit, die grundsätzlich ein Problem darstellt, für die Ablehnung der Schulreform missbraucht. Oder wenn die Initiative Schulleitern, die sich zur Reform bekennen, nichts anderes unterstellen können als dass sie vom Interesse an einem höheren Gehalt motiviert sein könnten. – Ob es sich hier nicht um eine Projektion eigener heimlicher Motive handelt?

Nicht zuletzt mit dem Mittel wissenschaftlicher Untersuchungen macht die Initiative Front. Jedoch sind Ihre Einwände nicht gar so überzeugend, wie es angesichts ihrer Inszenierungen scheinen mag. Die zahlreichen Untersuchungen aus dem Bereich Schule werden als Steinbruch für die eigene Interessenpolitik benutzt, und gleichzeitig sollen die eigenen Interessen als neutral und wissenschaftlich ausgewiesen werden. Man könnte gar den Eindruck bekommen, dass alle Untersuchungen darauf hinauslaufen, dem real existierenden Schulsystem mit dem Gymnasium als seinem natürlichen Zentrum die Note »sehr gut« auszustellen.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass auf allen Seiten in der Regel die Reichweite wissenschaftlicher Untersuchungen überschätzt wird. Mit ihnen lässt kaum etwas beweisen. Zweifellos können sie Impulse für weitere Fragen und Untersuchungen setzen, können der Hypothesenbildung dienlich sein. Verführerisch sind Ergebnisse dann, wenn sie den eigenen Interessen vermeintlich Allgemeingültigkeit bescheinigen. In aller Regel stehen methodische Mängel gegen eine Verallgemeinerung wissenschaftlicher Ergebnisse. So wie Studien und Untersuchungen ins Feld geführt wurden, liefern sie am Ende bestenfalls Material für Seminare zur Methodenlehre in Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaften und über die Aussagekraft wissenschaftlicher Untersuchungen.

So sind häufig Stichproben in ihren Zusammensetzungen nicht vergleichbar. Gleiches gilt für Konzepte, die von ihrer äußeren Form her ähnlich scheinen mögen, sich aber in ihrer Substanz unterscheiden. Sechsjährige Grundschulzeiten in verschiedenen Bundesländern können sehr Verschiedenes bedeuten. Bedauerlicherweise sind es in dieser Auseinandersetzung überwiegend die Reformgegner, die ohne Rücksicht auf die methodischen Grenzen von Untersuchungen diese für ihre Zwecke vereinnahmen. Die Websites der Gegner und Befürworter lassen erahnen, dass die Interpretation wissenschaftlicher Untersuchungen eine Kunst ist. Hier die „guten Gründe“ der Reformgegner Die guten Gründe der Reformgegner und hier die Argumente der Befürworter Die guten Gründe der Befürworter Fast zu jedem Punkt, der von den Reformgegnern aufgelistet wird, lässt sich ein methodischer Mangel oder eine andere Interpretationsmöglichkeit nachweisen. Aber interessiert das jemanden in den Medien, oder gar die vom Erfolg berauschten Reformgegner?

Auch der Vergleich von Lernerfolgen verschiedener Länder ist mit Vorsicht zu genießen. Zu unterschiedlich sind die historischen, mentalen und kulturellen Voraussetzungen, die in die Schulsysteme eingehen und in den »objektiven« Daten enthalten sind. So ist durchaus denkbar, dass selbst die eine gemeinsame Schule in Deutschland, wenn sie es denn je geben sollte, nicht die Wirkung hätte, die sie in anderen Ländern hat(te). Es käme noch darauf an, ob und wie sich schulisches Selbstverständnis und das Selbstverständnis der Lehrkräfte in Richtung »Anerkennung der Schülerpersönlichkeit« und »Lernen als Teil der Persönlichkeitsentwicklung« wandeln könnte. Gleiches gilt für den Leistungsbegriff, der das Lehren und Lernen von Lehrern, Kindern und Eltern orientiert und für den Begriff vom Lernen selbst.

Wissenschaft findet in einem Verwertungsprozess statt

Man sollte bedenken: Wissenschaft und die Interpretation ihrer Ergebnisse sind Teil eines Verwertungsprozesses. Ein wenig verhält es sich, wie mit den wissenschaftlichen Untersuchungen zur Erderwärmung und der Abschätzung ihrer Folgen: Auch hier können oder konnten Untersuchungsergebnisse in unterschiedliche Richtungen interpretiert werden. Von einem partikularistischen oder technikgläubigen Standpunkt aus ließe sich ja durchaus sagen, dass es »so schlimm« nicht kommen werde, dass die Veränderungen nicht nur Schäden, sondern auch Chancen böten und so weiter. Falls es zu konzertiertem Handeln der Menschheit gegen eine Erderwärmung kommt, dann weil sich aus einer Fülle von Untersuchungen Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeiten herauskristallisiert haben und man aus Gründen der Risikoreduzierung eine andere Klimapolitik einschlägt. Wissenschaftlich beweisen lässt sich nicht, dass ein »Weiterso« in der CO-2-Produktion in 50 Jahren exakt diese und keine anderen Folgen haben wird.

Auch für die Folgen eines so oder anders organisierten Schulsystems mit dieser oder jener Lernkultur liegen Daten wissenschaftlicher Untersuchungen vor, ohne dass sich aus ihnen letzte Gewissheiten ableiten ließen. Wir haben es auch hier mit Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeiten zu tun, wir müssen Risiken erkennen und sie minimieren. Und die jetzt Starken sollten sich nicht der Illusion hingeben, sie könnten sich auf Dauer mit höheren Deichen, sprich Gräben zwischen den gesellschaftlichen Schichten, vor den Folgen einer erodierenden Gesellschaft schützen.

Eine Weiterentwicklung der Lernkultur ist auf eine gesellschaftliche Debatte angewiesen. Sie tritt nicht als einfache Folge einer schulischen Organisationsveränderung ein. Sie braucht neben finanziellen und personellen Ressourcen eine kritisch-wohlwollende Debatte in der Gesellschaft. Und da wird deutlich, dass die Aussichten für eine Bildungsreform deshalb nicht gut sind, weil die gesellschaftlichen Debatten zu zentralen Themenfeldern von einem verkürzten Leistungsbegriff (Stichwort: Ökonomisierung), von Ausgrenzung der Schwachen und von Spaltung geprägt sind. So betrachtet, passt die Schule, so wie sie ist, zum neoliberalen Politikkonzept der letzten 20 Jahre.

Kampagnen haben Erfolgsvoraussetzungen

Der Erfolg der Initiative geht nicht zuletzt darauf zurück, dass viele Menschen mit dem Wort »Reform« keine Verbesserung ihrer Lage mehr verbinden können. Vielmehr löst es spätestens seit Rotgrün und Kanzler Schröder Ängste und Besorgnisse aus, ebenso wie Assoziationen von Durchmarsch- und Basta-Mentalität. Für Veränderungen, die auf Gegenliebe stoßen sollen, braucht man jedoch Vertrauen. Dieses aber ist schwer zu bekommen und wer will, kann einen Reformversuch – und sei er noch so gut gemeint – untergraben, indem die Glaubwürdigkeit und Seriosität in Zweifel zieht und die Kampagnenbetreiber mit Mitteln, Medien und Kommunikations-knowhow ausgestattet sind. Zumindest rückblickend lässt sich aus dem Resultat des Bürgerbegehrens und seinem Erfolg ablesen, dass gerade an dieser Stelle zentrale Versäumnisse der Reformer liegen.

Ein Reformversuch scheitert, wenn ihre Initiatoren »übersehen«, dass die restaurativen Kräfte sich auf Bewusstseinsproduktion verstehen. Sich auf die Logik der Sache zu verlassen, greift zu kurz. 20 Jahre Bewusstseinsbildung durch konservative Politik, konservative Medien und neoliberales Denken haben die Landschaft, in die Neues eingesät werden soll, mehr verändert als von den Reformern gedacht. Kleine Zeitfenster einer Legislaturperiode, die genutzt werden müssen, scheinen als letzte Auswege, bergen jedoch die Gefahr, die komplexe Realität zu ignorieren.

Die Primarschule in Hamburg durchsetzen zu wollen, dürfte mit hohen politischen Kosten verbunden sein. Selbst wenn es dafür eine Mehrheit geben sollte, könnte das die CDU zerreißen und ihr womöglich Wähler abspenstig machen. Die Grünen hätten unter Umständen ihr Gesicht gewahrt, weil sie wenigstens ein Wahlziel erreicht hätten, aber ob das für eine Wiederholung ihres Wahlergebnisses und für eine Fortsetzung der Koalition reicht, ist fraglich.

Den Durchmarsch zu versuchen mit einem Modell, dass ohnehin weit vom gemeinsamen Lernen entfernt ist und dessen Pflege in der nächsten Legislaturperiode womöglich anderen überlassen werden muss, ist wenig verlockend. Ein Kompromiss wäre dann vertretbar, wenn sich daran ein Projekt aller an Bildung Interessierter anschließen würde. Dieses könnte darin bestehen, dass sich eine parteiübergreifende gesellschaftliche Bildungsbewegung gründet. Wie die Anti-Atomkraftbewegung könnte sich die Bildungsbewegung jenseits der Legislaturperioden etablieren, sie könnte Bildung als Mittel der Zukunftsbewältigung in der Mitte der Gesellschaft verankern, jenseits partikularistischer und ständischer Interessen. Bildung könnte sich mit solcher Positionierung aus ihrer Degradierung kleingeistigen Parteiengezänks befreien und selbst auf Politik Einfluss nehmen.

13.12.09