Wie modernes Verwaltungshandeln und unverarbeitete Widersprüche Fachlichkeit gefährden (II)

Individualisierungskonzepte – Wege zur Emanzpation?

Ein weiteres Thema der Schule und der Beratungseinrichtungen sind Strategien der Individualisierung. Sie erscheint in den Konzepten »neuen« Lehrens und Lernens als Königsweg des Lehrerhandelns und die Berater sehen Möglichkeiten, mit ihrem auf das Individuum gerichteten Blick einen höheren Stellenwert zu gewinnen.

Allerdings: Individualisierungskonzepte sind nicht automatisch das Programm für Persönlichkeitsentwicklung. In der Regel scheint gemeint zu sein, Schüler und Schülerinnen mit unterschiedlichen Lernständen jeweils differenziert zu fordern und zu fördern. Weniger ist gemeint, die spezifische Emotionalität und Identität, einer Schülerin oder eines Schülers, wie sie sich aus der Lebens- und Familiengeschichte entwickeln, in das Lernen einzubeziehen, gegebenenfalls mit externen Experten.

Gleichermaßen ließe sich daran denken, stärker die persönlichen Vorerfahrungen der Lehrkräfte für die Art der Beziehungsgestaltung zu den Schülern und Schülerinnen und für den Schulentwicklungsprozess zu berücksichtigen. Psychologische (und anders basierte) Reflexion in Teams von Lehrern und Lehrerinnen böten Ansätze, Gruppen- und Psychodynamiken in Lerngruppen zu entschlüsseln und dem Begriff der Individualisierung weitere Varianten hinzuzufügen.

Da »Individualisierung« vermutlich nur in einer verkürzten Form in die Schulen einkehren und Team-/Organisationsentwicklung eine randständige Bedeutung haben wird, ist eher zu befürchten, dass mit Individualisierungskonzepten eher eine Verengung eintreten könnte. Der Blick fürs Ganze, der innere Zusammenhang des individuellen Lehrens, Lernens und Entwickelns mit den organisationellen Konzepten und Kulturen könnte verloren gehen. Das Sein der Organisation bestimmt das Bewusstsein – diese Wahrheit könnte auf der Strecke bleiben. In einem solchen Szenario wäre »Individualisierung« Erlaubnis, Aufforderung, Verführung, die Bedeutung der Organisation für Lehr-Lern- und Persönlichkeitsentwicklungsprozess zu vernachlässigen.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass Schule einen Wandel durchläuft, wie ihn Industrie- und Dienstleistungsbetriebe schon durchlaufen haben. Die Bedeutung subjektiver und psychischer Leistungen im Berufsleben nimmt zu. Der einzelne Mitproduzent und Mitwirkende soll selbst Kompetenz und Verantwortung für das Ergebnis der Arbeit haben und übernehmen und wie ein Unternehmer oder Manager. Was er (oder sie) früher durch externe Aufsicht und Kontrolle leisten sollte, soll er heute auf der Basis von Einsicht selbst tun. Schule und Lehrerschaft, wie auch Beratungsdienste sollen unternehmerisch denken, fühlen, handeln. Sie sollen handeln, und sich identifizieren, als ob sie Unternehmer wären. Tatsächlich haben sie keine Verfügung über Ressourcen, Ziele. Die sind von anderen, ohne in einem kooperativen Prozess entstanden zu sein, schon lange gesetzt.

Dennoch üben die Aufforderungen zu (Selbst-) Verantwortung, zur Nutzung der eigenen subjektiven Fähigkeiten einen besonderen Reiz aus. Sie knüpfen an Gestaltungswünschen und Erfahrungshunger an, die es bei Lehrerinnen und Lehrern (und Beratungsleuten) durchaus gibt. In der Tat wollen die meisten Lehrer sich nicht als Unterrichtsbeamte sehen, wie auch Beratungspersonal motiviert ist, sich tatkräftig und kompetent zu zeigen, was gern eher der Privatwirtschaft oder den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen zugeschrieben wird, während den Experten im Öffentlichen Dienst jahrzehntelang Biederkeit und Tumbheit, Unzeitgemäßheit und Faulheit unterstellt wurden. Leider haben sie in einer Art Überidentifikation und in der Hoffnung auf Anerkennung Verschlechterungen von Mitbestimmungsrechten und Arbeitsverdichtung hingenommen.

Der Prozess der Subjektivierung, wie die Verinnerlichung ehemals externer Aufgaben auch genannt wird, war in der Schule mit der Hoffnung verbunden, es ließen sich nun lang gehegte Träume und Ideale von Emanzipation und Demokratie verwirklichen. Zunehmend offenbart sich, dass die Akteure jedoch nicht mehr Verfügung über »ihre« Arbeit und über ihr Leben haben. Man kann beobachten, dass die vermeintlich emanzipatorischen Prozesse sich teilweise gegen ihre Träger wenden: Verdichtung von Arbeit und Selbstausbeutung nehmen zu. Es geht um die Frage, die Vogelsang, Moldaschl zitierend stellt: »Welche Subjektivierung findet eigentlich statt? Wird sie in humanistischer Absicht praktiziert oder in utilitaristischer Absicht?«

Die Rhetorik der Selbstverantwortung und Individualisierung übt in der pädagogischen und psychologischen Szene eine große Strahlkraft aus. Nicht selten ist sie verknüpft mit einem Hang zu Innerlichkeit und Romantisierung (und einer Organisations- und Gesellschaftsferne). So wenig diese und andere Begriffe definiert sind, so verbinden sie sich in der Regel mit humanistischen und demokratischen Ideen und Gefühlen, weniger mit Analysen. Diese Begriffe zu (be-) nutzen, sich ihre Symbolkraft anzueignen, den Jargon der (Selbst-) Befreiung zu sprechen, tatsächlich jedoch Kontrolle und Verfügung zu erhalten und auszubauen – das ist eine große Leistung der Management-Branche und ihrer Think-tanks, wie beispielsweise der Bertelsmann-Stiftung, die diese für der Unternehmens- und Verwaltungsspitzen, erbracht hat.

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