Wie fehlender Gesellschaftsbezug die Inklusion beschädigt und sie ins Gegenteil verdreht

Anmerkungen zu einem Vortrag von Birgit Herz

»Eine öffentliche Debatte über „Armut und Inklusion“ in schulischen und außerschulischen Institutionen von Bildung und Erziehung ist derzeit eher eine Leerstelle, obwohl sich hier das ganze Dilemma einer verfehlten Bildungs- und Sozialpolitik offenbart,« heißt es in einem pointierendem Artikel der Professorin Birgit Herz. Inklusionsrhetorik statt Inklusion könnte man sagen. Sie zeigt, wie der Mainstream der deutschen Erziehungswissenschaft Inklusionskonzepte von Autoren des Auslands anpasst, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass die Konzepte in ihrer gesellschaftsbewussten Substanz verändert wurden. Explizit gesellschaftskritische Ansätze werden demnach für eine naive inklusionspädagogische Strategie gemodelt.
Die Autorin untersucht die Inklusionsrhetorik. Wie in keinem anderen Land – ist es Nichtwissen, Strategie, Unterwürfigkeit? – werden ohne wissenschaftliche Debatte Standards der 60 iger und 70 iger Jahre entsorgt, Standards, die in der angelsächsischen Erziehungswissenschaft noch zu gelten scheinen. Ein solcher Standard ist, zu berücksichtigen, dass Bildung sich nicht in einem herrschafts- und interessenlosen Feld, sondern unter sozioökonomischen Bedingungen vollzieht.
Was in der deutschen Inklusions- und Bildungsdebatte systematisch zu kurz kommt, ist, dass die Art der Umsetzung der Inklusion und die betriebswirtschaftliche Durchstrukturierung und Neuorganisation staatlicher Bildungs- und Erziehungsinstitutionen eine Einheit sind, mit anderen Worten: die Inklusion dient der Ökonomisierung der Schule. Das ist die These von Birgit Herz. Damit öffnet sich der Blick darauf, dass die Inklusion als Mittel genutzt wird, Schule als Teil des öffentlichen Sektors weiterer Privatisierung und Kommerzialisierung zu erschließen, und damit in Kauf nehmend, dass die Spaltung der Gesellschaft fortschreite.
Im Zuge der Ausrichtung der Schulen auf (fragwürdige) Prinzipien vermeintlich erfolgversprechender Richtlinien »moderner« Bildung – rankinggeeignet – geht es auch darum, sich »ungeeignete« Schülerschaft von der eigenen, imagebewussten Schule fernzuhalten.
Auf solche Haltung könnte Schule in meinem Verständnis dann verzichten, wenn sie ausreichend Personal und Unterstützung bekäme, um Qualität und Kompetenzen zu erwerben, mit denen sie sich auf »schwierige« Schüler einstellen könnte. Und mit denen sie in der Lage wäre, Schülern direkte Förderung zukommenlassen zu lassen.
Tatsächlich scheint das nicht gewünscht; denn die Finanzierung des Schulsystems ist über Jahre gleichbleibend unterdurchschnittlich. Zudem werden die Widersprüche und Spannungen, die sich im Schulsystem ausweiten, kaum in in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung diskutiert, schon gar nicht mit den Experten vor Ort. In der Regel werden die Widersprüche in eine bürokratisierte Form, in Ablaufpläne, Zuständigkeitsverfeinerungen und Verordnungen gebracht. Diese sollen Handlungsfähigkeit darstellen, tatsächlich erzeugen sie eher eine Illusion davon oder halten die Beschäftigten auf Trab, erzeugen die Suche nach Strategien der Umsetzung und neue Widersprüche.
Mit der Ökonomisierung der Schule verschärfe sich das Selektionsprinzip, Hierarchisierung werde gestärkt, Arbeitsintensivierung nehme zu, ebenso Formalisierung und Bürokratisierung, stellt Birgit Herz fest. Das wird kaum ein Praktiker vor Ort bestreiten.
In Hamburg findet die Ökonomisierung des Schulsystems ihren besonderen Ausdruck im sogenannten Arbeitszeitmodell für Lehrerinnen und Lehrer. Es macht den Lehrern wortwörtlich die Rechnung auf, was was Wert ist. Muße, Reflexion, Abstandsgewinnung sind nach den Kriterien fachlich guter Arbeit unverzichtbar – sie werden jedoch vom Arbeitgeber in Gestalt der Arbeitszeitorganisation und ihrer Bewertung (Faktorisierung) immer wieder unterlaufen. (Letztendlich stellt sich die Frage, ob und wie in einem so durchrationalisierten System, das die Durchrationalisierung des Beschäftigten erzeugt, Platz für Beratung ist und wie darin Kreativität, Zuversicht, menschliche Zuwendung jenseits der Leistungs- und Anpassungserwartung ihren Platz finden sollen.)
Obwohl die Diskrepanz zwischen den Idealen der Inklusion und ihrer bürokratisierten Umsetzung mit Steigerung des Etikettierungswahns (Feststellungsdiagnostik) offensichtlich ist – die inklusionspädagogische Naivität, also die fehlende Einbettung des pädagogischen Strebens in gesellschaftspolitisches Denken, erlaubt die Transformierung der Inklusion in ein Instrument der Ausgrenzung.
Als böte diese Selbstbeschränkung Aussicht auf größere Akzeptanz oder als ginge es um das reine Ideal und die reine Idee, bleiben gesellschaftskritische Argumente in Wissenschaft und Praxis außen vor. Vielleicht soll es der reine Begriff sein, der Erlösung und Humanisierung verspricht. Schon einmal ist es gelungen, mit positiv besetzen Begriffen wie Autonomie, Verantwortung, Selbstverantwortung Lehrer und Schulen auf den Weg einer von oben gesteuerter »Selbst«-Rationalisierung zu bringen. (Vgl. Mietz/Kunigkeit: Supervision und Organisationsentwicklung in der Institution Schule zwischen Eigenverantwortung und Fremdorganisation; in Pühl: Handbuch Supervision und Organisationsentwicklung).
Unter den umfassend unzureichenden Bedingungen für eine erfolgreiche Inklusion, geht es tatsächlich, wie Birgit Hinz schreibt, um eine »graue Exklusion«. Mit expliziten und impliziten Rankings werden sich Schulen an die Spitze stellen und andere die Verlierer sein. Eltern, die es sich leisten und erlauben können, werden ihre Kinder entsprechend anmelden. Die Überflüssigen und Unangepassten werden umgekehrt »ihre« Schulen bekommen. Eltern, die die Ausgrenzung und Demütigung durch die Mehrheitsgesellschaft spüren und sich ohnehin an den Rand gedrängt sehen, werden ihren Kindern die Beschämung ersparen wollen. Zumindest teilweise werden sie von der Wahlmöglichkeit Gebrauch machen, ihr Kind an einer Sonderschule lernen zu lassen. Nicht weil sie sich davon einen Bildungserfolg versprächen, sondern weil sie Kränkung und Unverständnis reduzieren wollen und sich mit ständiger Zurückweisung und Ermahnung schlecht leben lässt. Dass nicht sie es sind, die Parallelgesellschaften erzeugen, sondern die herrschende Politik, fällt angesichts des Niveaus der Bildungsdebatten und der Medien kaum auf.
Birgit Herz setzt sich auch mit der Frage der Auflösung der Schulen für Erziehungshilfe und für Verhaltensgestörte auseinander. Sie kritisiert Andreas Hinz, der für diese Auflösung plädiert. Unterstützungssysteme sollten in Hinz‘ Konzept integrativ, ambulant und fallbezogen und nonkategorial arbeiten. Die Autorin sieht darin die Leugnung »paradoxaler Grundkonflikte«, die Reduzierung von Inklusion auf Methodik, Verwaltungslogik und Budgetierungsfragen. Diese Auseinandersetzung ist insofern interessant als in Hamburg seit ca. 2000 schulische Erziehungshilfe und Verhaltensgestörtenschulen aufgelöst sind und aus den Mitarbeitern dieser Schulen und aus dem aufgelösten schulpsychologischen Dienst ein neues Beratungssystem geschaffen wurde (ReBuS: Regionale Beratungs- und Unterstützungsstelle.)
Von offizieller Seite und auch von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird diese Konstruktion überwiegend als Erfolgsmodell gesehen. Zwei Evaluationen scheinen das zu bestätigen. Allerdings dürften diese Urteile auf subjektiven Einschätzungen zur Arbeitszufriedenheit und zur »Freiheit« der Arbeit am Fall zustandekommen – angesichts belastender Arbeitsbedingungen durch die Konzentration einer schwierigen Schülerschaft an einem Ort ist das nicht überraschend. Auf einem anderen Blatt steht, ob und wie einer problematischen Schülerschaft insgesamt förderliche Entwicklungsbedingungen verschafft werden konnten oder nicht.
Zuzustimmen ist Birgit Herz, wenn sie die Botschaft vermittelt, dass die »biographischen Notlagen und Lebensbelastungen« der Kinder, Jugendlichen und Eltern in einer kostenneutralen oder budgetierten, integrativen und ambulanten Fallarbeit an der allgemeinen Schule zu »verdampfen« drohen. Diese Gefahr besteht meines Erachtens auch dann, wenn einem Schüler oder einer Schülerin außerhalb von Schule durch Erschließung von zeitweiligen Fördermitteln durch Vereine und Stiftungen begrenzte Förderung zuteilwerden sollte. Es spricht einiges dafür, dass sich die gutgemeinten Absichten und Entscheidungen, das Durchlaufen diverser Diagnostikstationen, die Motivierung von Kindern, Eltern, Ämtern und sonstigen Trägern zu einer Erfahrung des Ausgegrenztseins und der Herabsetzung verdichten. Diese Überlegung schließt an eine Textstelle an, in der die Autorin, Radtke zitierend, von »langen, scheinbar unabhängigen Ketten von Einzelentscheidungen« spricht, die »schließlich exakt und präzise stets diejenigen aussortiert, die von den Normalitätserwartungen abweichen«.
Unter organisationellem und politischem Aspekt sieht Birgt Herz in den genannten Sonderschulen eine »institutionalisierte und personalisierte Gesellschaftskritik«, vielleicht so etwas wie einen Stachel im Körper der selbstgerechten, harmonisierenden, konkurrenz- und aggressionsbereiten Gesellschaft und der zu ihr passenden Schule. Wird dieser Stachel entfernt, fallen die sich selbst und den Schulen überlassenen »Überflüssigen« bei knapp gehaltenen Mitteln als gesellschaftliche Aufgabe nicht mehr auf. Was bleibt, ist die die soziale Dimension ignorierende Feststellung des schlechten Benehmens und der folgenden Legitimierung von Repression.
Wer ernsthaft Inklusion will, muss zur Kenntnis nehmen, dass sie – so verstehe ich Birgit Herz – nicht allein über eine mehr oder weniger fragwürdig organisierte Inklusionspädagogik zu bekommen ist. Wer Inklusion möchte, sollte sich nicht nur auf seine humanistischen Ideale verlassen. Er (oder sie) sollte die soziale Exklusion in der Gesellschaft in den Blick nehmen. Die soziale Exklusion, wesentlich befördert durch politisch in Kauf genommene oder gewollte Armut, greift Wert und Würde von Menschen an. Das lässt sich nicht durch vermeintlich humane pädagogische Inklusionsversuche kompensieren. Eher erhöhen sie die Gefahr, dass das Gutgemeinte als weitere Verhöhnung ankommt. Und andererseits als willkommener Ausschluss von Konkurrenten in der Liga der Erfolgreichen verstanden wird.

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