Wie gut sind gutgemeinte Fusionierungen?

Anmerkungen zur Implementierung eines Organisationsentwicklungsprozesses, von Jürgen Mietz

Im Namen der Inklusion – zu einem allem Anschein nach guten Zweck also – nehmen die Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte, wie auch Eltern und Beschäftigte im Schulsystem besondere und zusätzliche Belastungen auf sich. Neue Rollen, Organisationsformen und Kooperationsabläufe wollen erfunden sein. Ein Spezialfall dieser Entwicklungsaufgabe stellen die REBUS (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen) und die neu zu gründenden Bildungszentren in Hamburg dar.

Bei allen Unklarheiten und offenen Fragen ist vorab entschieden: REBUS und die Bildungszentren sollen in einer Organisation zusammengefasst werden. Eine Entscheidung, die in hohem Maße die Qualität der Arbeitsplätze, der Arbeits- und Kooperationsverständnisse berührt. Ob zusammengehört, was da zusammenwachsen soll, muss bei näherer Betrachtung offen bleiben. Die Entscheidung wurde ohne die Beteiligung der unmittelbar Betroffenen gefällt. Substanz und Stichhaltigkeit der Entscheidung können empirisch und theoretisch kaum nachvollzogen werden. Vermutlich ist ein Hintergedanke der Reformer, dass den potenziellen Nachfragern der Leistungen der REBUS und der Bildungszentren eine Unübersichtlichkeit drohe, die ihnen nicht zuzumuten sei. Und mit dem Argument, man wolle einem Behördenwildwuchs vorbeugen, lässt sich leicht Zustimmung gewinnen.

Jedoch: Warum sollte es den künftigen Beratungs- und Bildungszentren anders ergehen als den jetzigen REBUS, denen der neue Anzug nach 10 Jahren immer noch nicht richtig sitzt? Manch eine/r mag von Synergieeffekten träumen, die sich – eine solche Fantasie scheint es zu geben – im Selbstlauf einstellen mögen. Daraus spricht eine  Überschätzung der technischen Organisierbarkeit und eine Unterschätzung der (möglichen) unterschiedlichen Aufgabenstrukturen und Kompetenzen.

Fusionen gehören zum kompliziertesten, was die Organisationsentwicklung zu bieten hat, siehe Daimler/Chrysler. Man weiß inzwischen, dass überschaubare, eigenständige Einheiten bessere Voraussetzungen für Entwicklung und Effizienz bieten als Großorganisationen. Daraus, wie auch aus Übergaben in Familienbetrieben lässt sich lernen, dass es sinnvoll ist, Organisationen zu betrachten, als seien sie lebende Organismen, mit einer Identität, mit einer Seele, mit einer Herkunftsgeschichte. Sollen Fusionen funktionieren und den erhofften Mehrwert erbringen, gilt es, die »Individualität« der »Beiträger« zu (er-) kennen und anzuerkennen und sie nicht bewusst oder unbedacht in einen technokratischen Vereinigungsprozess zu schicken.

Bedauerlicherweise scheint eine solche Haltung nicht für Schulbehörden zu gelten. Sollte man nicht erwarten, dass eine Therapie erst nach umfassender Analyse der Wirkungen und Nebenwirkungen angesetzt wird …?
In Hamburg wird verordnet, dass eine 10 Jahre bestehende Organisation wie die REBUS, die ihre eigene Geschichte und ihre Binnenverhältnisse noch kaum beschrieben und aufgearbeitet hat, mit einer noch gar nicht bestehenden Organisation, wie den Bildungszentren, zusammenzufügen ist. Das geschieht ungeachtet der Erfahrungen, der bestehenden Widersprüche, Ängste und Machtansprüche, wie auch noch fehlender Kooperationspartner. Fantasien der Übernahme spielen eine Rolle. Haben sie einen Wahrheitskern, fragt sich der erstaunte Zuhörer?

1    Der Entwicklungsprozess der REBUS und Defizite in der Rezeption

Für REBUS gibt es eine Evaluation aus dem Jahre 2007, die so lange niemanden interessierte, bis sich der Rechnungshof Gedanken machte. Die Evaluation ist in ihrer Anlage durchaus problematisch, stellte sie doch bestimmte Fragen nicht. Trotz solcher Einschränkung bleibt festzuhalten, dass sie mit erheblicher Kritik an REBUS aufwartete. Gleichwohl bescheinigt sie in sehr allgemeiner Form REBUS einen Erfolg – warum auch immer. Das bleibt nicht ohne Folgen.

Bedauerlich, dass in einem Gutachten für die Umsetzung der Inklusion in NRW sich die Autoren und Professoren Klemm und Preuss-Lausitz auf die vagen Positivformulierungen des REBUS-Gutachtens beziehen. Das wiederum nutzt die Hamburger Schulbehörde, um REBUS als Erfolgsmodell zu präsentieren. Nicht zu vergessen: Das Gutachten wurde mit den Beschäftigten – schon gar nicht in den durchaus kritischen Details – nicht diskutiert.
Warum ist es so schwer, Wissenschaftler, wie die oben erwähnten, sowie Pädagoginnen und Pädagogen in Behörden für einen Dialog zu gewinnen und für die problematischen Seiten von REBUS oder der anstehenden Fusionierung zu interessieren?

Klaus Klemm und Ulf Preuss-Lausitz sind immerhin nicht zu den rückwärtsgewandten Geistern zu zählen. Beide stehen für den Einsatz für eine gerechte Bildungspolitik und in diesem Rahmen auch für die Inklusion. Beiden ist abzunehmen, dass es ihnen um eine Humanisierung der Schule und der Gesellschaft geht. In diesem Streben fassen sie ihre Positionen und Empfehlungen ab. Sie scheinen dabei die Aufgabe – was ja auch nicht gänzlich falsch ist – als schulorganisatorische, sonderpädagogische und pädagogische und in dem Sinne selbstverständlich auf das Kind bezogene zu sehen.

Was allerdings kaum Berücksichtigung findet, ist der Beratungsteil der REBUS (und der neuen Organisation). Und dass Beratung etwas anderes ist als Schule und Schulorganisation oder Organisation von Inklusion. Zwar gehört Beraten zu den konstituierenden Elementen der Lehrertätigkeit. Andererseits aber geht Beratung (inzwischen) über ein pädagogisches, unterrichtsnahes, lehrplanorientiertes, schulzweckrationales Verständnis hinaus. Bundesweit wird in der Schulberatungsarbeit ein erweitertes Verständnis überwiegend von der Schulpsychologie repräsentiert, aber auch von Pädagogen, die durch Zusatzausbildungen in das Lager eines erweiterten Verständnisses von Beratung gewechselt sind.

Exkurs zu einem erweiterten Beratungsverständnis

Diese Form der Beratung nimmt die unterschwelligen Psycho-, Sozio- und Beziehungsdynamiken (bei aller ausbildungsbezogenen Unterschiedlichkeit sprachlicher Formulierungen) eines als auffällig definierten Verhaltens in den Blick. Sie sieht Lernerfolge/-misserfolge und Erziehungswirkungen als Teil auch emotional verankerter Selbstverständnisse und Identitätsvorstellungen. Schulleistungen sind in dieser Sicht auch persönlichkeitspsychologische, emotionale und beziehungsdynamische Leistungen. Sie finden nicht nur im Schüler und seiner Familie statt, sondern auch in der Lehrkraft und im schulischen System. Diese Zusammenhänge werden auch gern als systemisch bezeichnet.

Man möchte meinen, dass ein erweitertes Beratungsverständnis der emotionalen und Beziehungsleistung der Lehrkräfte im skizzierten Sinne in das schulische System aufgenommen werden könnte und sollte. Dazu wäre allerdings ein Setting erforderlich, das Gelegenheit bietet, solche Möglichkeiten ernsthaft zu nutzen.

Dieser Weg ist besonders lohnend, sowohl in Hinblick auf den konkreten, einzelnen Schülerberatungsfall als auch in Hinblick auf die Stärkung der Lehrkraft als auch in Hinblick auf die Stärkung des schulischen Systems.
Er ermöglicht der Lehrkraft ein vertieftes Verständnis der Handlungsbedeutungen, in die die Unterrichts- und Schulereignisse eingebunden sind; er schafft bei Verstrickung Distanz, aus der neues professionelles Handeln möglich wird. Über den so genannten Einzelfall lassen sich die persönlichen Wert- und Normvorstellungen des Lehrers mit seiner konkreten pädagogischen Arbeit verknüpfen. Damit eröffnen sich Perspektiven auf eine personenbezogene Arbeit an der Lehr- und Lernkultur, besonders dann, wenn in diesem Sinn mit Klassenteams oder anderen Arbeitsgruppen der Schule gearbeitet wird. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass solches Arbeiten dem pädagogischen Handeln nützt und der Lehrergesundheit dient (zum Beispiel Schaarschmidt, Bauer u.a.).

Sind Behörden bereit, ein professionelles Beratungssetting zu ermöglichen?

Diese Arbeitsformen (der Lehrerberatung, der Fallbesprechung, der Supervision, des Coaching) erfordern ein besonderes Setting (in Hinblick auf die Arbeit mit Schülern und Familien gilt das ebenfalls). Sie können ihre Wirkung erst entfalten, wenn Grundprinzipien der Beratung (verstanden als normierendes, handlungsleitendes, ethisches System) gesichert sind und ihre Einhaltung von den Beratern und ihren Vorgesetzten »gepflegt« werden. (Darüber wurde in diesem Blog schon des Öfteren geschrieben, Aufsätze in der Kategorie Positionen).

Solche Beratungsverständnisse, die den klassischen Bereich schulisch-pädagogischen Handelns (und Beratens) überschreiten, sollten bei der Neuorganisierung von Beratungsdiensten für Schule weder ignoriert, noch – dort, wo sie schon entwickelt vorhanden sind – durch Organisationsentwicklung oder übereilte Empfehlungen, zunichtegemacht werden. Diese Gefahr besteht akut, wenn Beratung dem organisatorisch-technokratischen Zweck eingeordnet und »verschult« wird.

Wie sollen etwa Lehrkräfte Zweifel und Selbstzweifel artikulieren, die sie angesichts von Rollenunsicherheiten und Konflikten haben, wenn die Berater/innen einer schulnahen und Inklusion fordernden Organisation angehören? Es steht viel auf dem Spiel für die Schulberatung: Warum nicht auch Gutachten von Experten für Beratung anfertigen lassen – darum ging es doch auch, oder?

2    Noch einige Fragen zum Fusionierungsprozess

Warum ist die Umsetzung der Inklusion – von der Ämter- und Professionsverantwortung betrachtet – im Wesentlichen eine Angelegenheit der Sonderpädagogik? Wie ließe sich Inklusion als allgemeinschulischer Prozess organisieren? REBUS, eine Beratungs- und Unterstützungsstelle für alle Schulformen – wenngleich stark durch pädagogisches und vor allem sonderpädagogisches Denken (und weniger beratungspsychologisch) geprägt und ebenfalls in einem  sonderpädagogischen Aufsichtsstrang – könnte gut die Position des »neutralen« Dritten einnehmen (am besten natürlich mit einer anderen aufsichtlichen Einbindung).

Es gibt Hinweise (Werning-Gutachten zu den NRW-Kompetenzzentren), dass es durchaus sinnvoll sein könnte, Beratung nicht von einer mit Inklusion beauftragten, sonderpädagogisch orientierten Stelle durchführen zu lassen, sondern von einer Einrichtung, die eine gleiche Distanz zu den Sonderpädagogen der Regelschulen und zu den Regelschulpädagogen hat. Des Weiteren ist dem erwähnten Gutachten zu entnehmen, dass ein hoher Reflexionsbedarf entstehen dürfte, der sich aus unterschiedlichen Erwartungen und Rollenverständnissen der Regelschullehrer und Sonderpädagogen speist.

Warum den Nutzen und die Chancen eines erweiterten Beratungsbegriffs dadurch behindern oder unmöglich machen, dass Beratung in einem avancierten Sinn in einen schulisch orientierten und geprägten Rahmen gepresst wird, der beim Nutzer die Befürchtung nährt, dass es an Verschwiegenheit und Neutralität mangeln könnte?

Beratungsformen und -inhalte, die über das Pädagogische hinausgehen, sind nützlich. Sie erfordern ein eigenes Setting (Unabhängigkeit der Berater von Aufsichtssträngen der Lehrkräfte und Schulen, Verschwiegenheit, Ergebnisoffenheit, keine »Amtshilfe« für aufsichtliche Aufgaben, wie Absentismusbearbeitung, Bearbeitung von Gewaltereignissen, Begutachtungen/Stellungnahmen, Beteilung an Gewährung oder Versagen von geldwerten Leistungen, wie AUL (außerunterrichtliche Lernhilfe)).

Wäre es nicht sinnvoll, in einem Evaluationsprozess die unterschiedlichen Merkmale der REBUS-Sonderpädagogen und der Schul-Sonderpädagogen herauszuarbeiten und die Möglichkeit im Auge zu behalten, dass den unterschiedlichen Erfahrungen unterschiedliche Kompetenzen entsprechen können, die nicht zwangsläufig in einer Organisation am besten zu Geltung kommen?

In welchem Verhältnis stehen die Sonderpädagogen der Regelschule zu den Sonderpädagogen, die aus REBUS kommen? Treffen sie in einer Klasse oder für ein Kind aufeinander und falls ja, mit welchen Rollen und Aufgaben?

Man darf davon ausgehen, dass sich die Tätigkeiten von Sonderpädagogen in REBUS von Sonderpädagogen in Schulen unterscheiden und sich unterschiedlich entwickelt haben. Sprachlich werden die Personen jedoch zu »den« Sonderpädagogen vereinheitlicht.

Die bisherigen Debatten zur Inklusionsumsetzung drehen sich vor allem um die Unterrichtsversorgung. Es ist jedoch aus der Praxis erkennbar, wie auch aus dem Werning-Gutachten, dass Rollenklärung und die Entwicklung der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Pädagogengruppen von erheblicher Bedeutung sein werden. Warum sollte hier nicht eine besondere Aufgabe von REBUS liegen? Und dann außerhalb eines sonderpädagogisch-aufsichtlichen geprägten Kontextes, sondern in einem Kontext der teamentwicklungsorientierten, moderativen Beratung?

Text als PDF Wie gut sind gutgemeinte Fusionierungen?