Von Löwen und Füchsen

Der Hanser Verlag veröffentlichte  ein Büchlein des Soziologen Heinz Bude: Bildungspanik —  Was die Gesellschaft spaltet. Hier einige Anmerkungen dazu:

Heinz Bude beginnt sein kleines Buch damit, dass er zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende Lager kennzeichnet. Da seien zum einen die, die klassenmäßige Privilegien verteidigten und zum anderen diejenigen, die prüften, ob man sich als Feind oder Freund der eigenen Kinder oute. Angesichts solcher Unversöhnlichkeit zieht der Autor den Schluss, dass eine dritte Position äußerst dringlich sei. Wer sich nun erhoffte, im Laufe des Textes werde sie erkennbar, sieht sich getäuscht. Oder sollte das Schlusskapitel diese Lösung darstellen? Darin plädiert Bude für Entspannung. Es ist die Demografie, die Erlösung verschafft. Da klappt man am Ende baff und seufzend das Buch zu, nachdem man doch einige anregende Zuspitzungen gelesen hatte.

Bedauerlicherweise deckt der Autor in seinem Essay nicht auf, wie er sich denn zwischen den von ihm aufgedeckten Widersprüchen positioniert. Nicht immer ist zu erkennen, ob er sich lediglich in die Protagonisten des Konflikts versetzt und sich deren Sichtweisen anverwandelt oder ob er seine Meinung kundtut. Es kommt nicht selten vor, dass etwas »scheint« oder dass etwas »offenbar« ist oder auch nicht – und der Autor, der so prägnant formulieren kann, im Gebüsch verschwindet.

Es gibt die eine oder andere offene Gestalt, die einen ratlos zurücklässt – und dennoch enthält das Buch einige Kontrastierungen, Widersprüche, und Zuspitzungen, die einen das Bildungsgeschehens besser verstehen lassen. Er deckt den einen oder anderen Widerspruch auf, der nicht zuletzt für professionelle Berater im Schulsystem und für Akteure Konfliktlinien verdeutlicht und die Gründe für manche Gefühlslage, wie sie einem in Schule begegnet, nachvollziehbar macht.

Wofür man ihm dankbar sein muss, ist die Benennung einiger fragwürdiger Entwicklungen, die heute als Selbstverständlichkeiten kaum noch hinterfragt werden. Er schreibt von Bildungsprotektionismus als Strategie der Statussicherung. Er erinnert an Dahrendorfs Recht auf Bildung und daran, dass Bildung als Bürgerrecht zu gelten habe und daran, dass sie zur Grundqualifikation des Staatsbürgers gehöre.

Im Kapitel »Der bildungsindustrielle Komplex« lassen sich Gedanken finden, wie den – in Verbindung mit der Ausweitung einer »investiven Haltung« –, dass in der Bevölkerung das Interesse an Kriterien und Methoden erfolgversprechender Bildung wachse; dass das den Ruf nach Standards nach sich ziehe. Um diesen Forderungen gerecht zu werden wurden die Kompetenzen erfunden, was wiederum zu einigen Kurzschlüssen im Bildungsbegriff und in der Praxis führt. Pädagogische Ziele der Vergangenheit oder jene der Reformpädagogik ließen sich mit dem Verlangen nach Standards nicht übereinbringen.

Heinz Bude sieht eine Arbeitsteilung: Da treffen sich die Wettbewerbspropagandisten von PISA und die Anbieter von Bildungssoftware. Die einen decken auf, wo es hapert und die anderen bieten das Material an, mit dem sich die Lücken schließen lassen.

Interessant die Anmerkungen zum Kompetenzbegriff, bei dem die (vermeintliche) Vermessbarkeit spezifischer Fähigkeiten gegenüber den Inhalten im Vordergrund stehe. Diese Vermessungsarbeit diene »nicht der Freilegung eines verdeckten, verdrängten oder verschobenen menschlichen Potenzials. Auf dem Weg der Klassifikation ist das Ziel der Emanzipation auf der Strecke geblieben.«

Anschaulich und lebendig sind die Psychogramme von Bildungsverlierern (Füchsen) und Bildungsgewinnern (Löwen). Die Löwen beherrschen das Feld. Wenn Füchse zu Löwen werden, kann sich eine Mischung aus Renitenz und Hörigkeit ein Leben lang halten, schreibt er vielleicht aus eigener biografischer Erfahrung und aus der Erfahrung manchen Bildungsaufsteigers.

Im Abschnitt »Die derangierte Institution« geht der Autor den kaum (aus-) haltbaren Widersprüchen des Lehrerlebens nach. Sie sich zu Gemüte zu führen, kann der Selbstaufklärung dienen,  sie kann aber auch der Vorstellungskraft von Beratern und Supervisoren auf die Sprünge helfen. Und warum nicht auch im glücklichen Fall nicht auch der Vorstellungskraft von Bildungsplanern?

Heinz Bude erinnert an professionelle Kompetenz als »inneren Zusammenhang von erlernbarem didaktischen Wissen, von erworbenen beruflichen Überzeugungen, aber auch von relativ stabil ausgebildeten Motivlagen sowie von Fähigkeiten zur persönlichen Selbstregulation« (Dabei »übersieht« er allerdings, wie verschieden diese Säulen sind und dass sie verschiedenen Werkstätten gefertigt werden und sie – was nicht zuletzt eine emotionale Leistung der Lehrerinnen und Lehrer ist – in der Person und durch sie integreirt werden müssen. Ein gutes Mittel, mit dem das geleistet werden kann,  scheint mir Supervision zu sein.

Undurchsichtige Ambivalenzen finden sich in der Rolle der Lehrkraft. Der Lehrer hat »nicht mit Betroffenen zu tun, die aus freien Stücken kommen und gehen, sondern mit Schutzbefohlenen, die sich ihn nicht aussuchen können.« Da baue sich Groll auf.
Woher kommt die Abschätzigkeit gegenüber dem Lehrberuf? fragt sioch Heinz Bude. Er erinnert an Adorno: Wir verübeln dem Lehrer die Macht, die wir an ihm bewundern. Der Machtanspruch sei notwendig, aber er sei nur angemaßt, was wir den Lehrpersonen verübelten. Nie sei erkennbar und zumessbar, was dem Lehrer von Amtswegen verliehen sei und was er selbst darstelle und sei.
Die zugewiesene und genutzte Disziplinierungskompetenz schaffe da Bilder des Stärkeren, wo es doch partnerschaftlich zugehen soll.

Die institutionelle Botschaft der Schule vom Anrecht des Kindes auf individuelle Förderung nennt Bude verwegen. Der ihr gegenüber- und entgegenstehende Sozialisationsauftrag der Schule, der ja auch Teil der Rolle der Lehrkraft ist, sorge für Irritationen.
Die Pädagogik als Wissenschaft tue so, als könne man diesem Widerspruch durch Methoden entgehen. Wie kann ich dem einzelnen Kind gerecht werden, ohne die Maßstäbe der Gleichheit zu verletzen? Sei eine Dauerambivalenz, mit der die Lehrer zunehmend auf sich allein gestellt seien.
Heinz Bude erkennt in der Modernisierung und Enttraditionalisierung von Umgangsformen in der Schule einen Verlust. Ein Verlust, der eine Kompensierung der Ambivalenz(en) erschwere. So schwinde das Gespräch unter den Kolleginnen und Kollegen; denn die Kompensierensleistung sei kein Bücherwissen (und Methodenwissen möchte man hinzufügen). Er sieht im Gespräch eher den Ausdruck spezifischer Kenntnisse, selbst erlebter Versuche und Irrtümer. Damit verliert die Schule Menschliches und Persönliches, mag man schließen. Enttraditionalisierung verhindere oder behindere den Umgang mit dem Widerspruch zwischen Individualisierung und Egalisierung.

Der Autor unterscheidet Organisationen und Institutionen. Organisationen würden nach Zahlen und ihrem Output beurteilt. Institutionen nach Übereinstimmung mit ihrem Sinn. Organisationen können demnach verändert und abgeschafft werden. Institutionen würden sich wandeln und kehrten immer wieder. Diejenigen, die die Zahlen erfassen und die veranlassen ,haben das letzte Wort, nicht diejenigen, die die Tradition kennen und die Arbeit vor Ort machen. Bude sieht die Schule vor der Alternative, ob die Beschäftigten als optimierbare Ressource gesehen werden, oder ob in ihr die traditionelle Ethik der Selbstkorrektur und interne Foren wechselseitiger Kritik gestärkt werden.

Kollegiale Fallbesprechung / Beratung, Lehrerberatung, und Supervision setzen an dieser Notwendigkeit an — und  geraten damit selbst in Widerspruch zur modernisierten und enttraditionalisierten Schule. Möglicherweise sind die genannten Beratungsformen aber auch ein Weg, den von Bude beschriebenen Verlust „auf  modern“ zu kompensieren und einen Gegenpol zur standardisierten, vermessbaren Schule aufzubauen. Aus dieser Dialektik könnte dann eine moderne, humane Schule entstehen.

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