Vor einiger Zeit habe ich hier auf das Buch »Neoliberale Identitäten« mit interessanten Texten hingewiesen. Ein Artikel scheint mir für den pädagogischen, schulpsychologischen und beraterischen Bereich sehr treffend, auch wenn er sich mit dem Arbeitsfeld der Psychotherapie befasst. Strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Schul- und Schulberatungsbereich sind offensichtlich.
Der Titel (»Verstehen nach Zahlen?«) weist auf ein Grundproblem der Psychotherapie – und eben auch pädagogischer und psychosozialer Arbeitsfelder – hin. Sie sollen sich nach dem Vorbild mechanistischer und industrialisierter Modelle rational und zweckorientiert, also ökonomisch effizient formieren (lassen). Giovanni Maio beschreibt prägnant und sprachmächtig, wohin das führt: zu einer Dehumanisierung der Patienten/Klienten/Schüler/Professionen. Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung, Autonomie, Mitgefühl sind auf diesem Weg der vermeintlichen Effizienzsteigerung nicht zu erreichen. Das Gegenteil ist zu befürchten. Die seelischen und sozialen Schäden werden zunehmen und die Aussichten auf individuellen und gesellschaftlichten Zusammenhalt schwinden dahin.
Einige Aspekte aus dem 6 seitigen Text will ich hier nennen.
Giovanni Maio schreibt, dass die Grundorientierung »des ökonomischen Handelns zwangsläufig ein strategisches Handeln, ein instrumentelles Handeln, das letzten Endes die wechselseitige Instrumentalisierung der Menschen als eigentliche Art des Umgangs miteinander etabliert«, ist. Fehle diese berechnende Haltung, gelte sie als irrational und schlimmer noch: als »verdächtig«. Die von Maio untersuchten Folgen für die Psychotherapie lassen sich ebenso für Schule und schulbezogene Beratung anstellen.
Das soziale Handeln der Professionellen erleide eine Entwertung der sozialen Zielsetzung. Therapie, Beratung, Bildung und Erziehung werden einem »prüfbaren Herstellungsprozess« unterzogen, hinter dem ein »normierendes Management, das sich an festgelegten Regeln orientiert«, steht – und nicht die Qualtität und Erfahrung eines/einer Professionellen.
Helfen als Handreichung
»Die Probleme des Patienten (Klienten, Schülers, Lehrers, der Eltern) werden in vorgegebene Strukturen gepresst, wodurch die professionstypische Situationslogik, die das therapeutische (beraterische, pädagogische) Handeln durchzogen hat, auf diese Weise Zug um Zug ersetzt werden soll durch eine Handreichungslogik«. Es komme immer weniger auf reflexive Kraft an, sondern auf die stringente Umsetzung einer Anleitung.
»Diese Hinwendung zur Managerialisierung [man könnte auch sagen: Steuerung, JM] paart sich mit einer Hochschätzung der Messbarkeit und der Zelebrierung der Zahl …«.
»Die Zahl verheißt Handhabbarkeit, sie verspricht die Operationalisierung eines komplexes Problems, ohne dass deutlich würde, dass diese Handhabbarmachung durch eine Simplifizierung und Engführung erkauft wird.« (Wenn der hier besprochene Artikel »Verstehen nach Zahlen?« überschrieben ist, ist die Assoziation zum »Graf Zahl«, wie der Hamburger Schulsenator Ties Rabe einmal in der Zeit beschrieben wurde, nicht weit.)
Typisierung individueller Klientenbedürfnisse
Klientenbedürfnisse, Bedürfnisse von Ratsuchenden müssen vorab so typisiert werden/sein, schreibt Maio, dass sie in vorgefertigte, vorhandene Programme (»Prozessanordnungen«) passen. Der Patient selbst muss schematisiert und seine eigene Erlebniswelt muss einer Schematisierung unterzogen werden.
Diese Prozedur dürfte aus der schulischen Pädagogik und den Beurteilungsprozeduren zur Gewährung von Förderung, u.a. im Zusammenhang mit der Inklusion (!) bekannt sein, ebenso wie aus Anwendungen der Testpsychologie. Die Not des Einzelnen, seine oder ihre Unverwechselbarkeit tritt in den Hintergrund zu Gunsten der Zuweisung zu einem Programm.
Die Selbstverständnisse der professionellen Akteure verändern sich radikal. Sie verstehen nicht mehr den Patienten/Klienten nicht mehr in seiner Geschichte und in seinen Lebens-/Berufskontexten, sondern sie werden zu Machern: ein Problem ist in effektive Prozeduren zu gießen. Und diese müssen in ein zählbares Outcome münden.
Weil nicht mehr die Kontexte und ihre Geschichte im Fokus stehen, sondern die Suche nach einem passenden Interventionsprogramm, gerät das Individuum „als Ganzes” aus dem Blick. Sein Problem wird nicht mehr als »Folgeproblem einer bestimmten Gesellschaftsstruktur« gesehen.
»Die Ökonomisierung der Gesellschaft führt also zu einer Individualisierung der Probleme und zu einer Vernachlässigung der sozialen Kontexte, zu einem Ausblenden soziokultureller Determinanten von psychischen Problemen des einzelnen Patienten.« Und weiter:
Entwertung professionellen Könnens
»Allgemeiner formuliert bedeutet die Ökonomisierung der Psychotherapie [die Ökonomisierung von Beratung, Bildung, Erziehung, JM] eine Geringschätzung des analytischen Vorgehens, die Geringschätzung der Problemanalyse und die Glorifizierung des strategischen Handelns. Das, was nicht unmittelbar in ein strategisches Handeln übersetzt werden kann, erhält im Zeitalter der Ökonomie schlichtweg keine Bedeutung. … Im Grunde geht die Ökonomisierung deswegen mit einer Veroberflächlichung der Therapie [einer Veroberflächlichung von Beratung, Bildung, Erziehung, JM] einher.«
Berufsverständnisse erodieren
Es ist wohl nicht unbegründet – Anzeichen dafür gibt es in verschiedenen Praxisfeldern – , anzunehmen, dass sich Selbst-, Rollen- und Fachlichkeitsverständnisse unter dem Ökonomisierungsdruck bei den Professionellen verändern. Ausgebildet mit modularisierten Methoden, die wenig Raum und Nischen für subjektive, historische, kontextualisierende und bindungstheoretische Konzepte lassen, bleibt dem vereinzelten Fachmenschen fast nichts anderes übrig als sich selbstverständlich von den managerialen/steuernden Ansprüchen überwältigen und vereinnahmen zu lassen. Und sich in ihnen zu beheimaten. Es sei denn …