Die Politik handelt unterkomplex, hierarchisch, vormodern und anti-aufklärerisch
In einem ausführlichen Thesenpapier – 150 Seiten – legt eine Wissenschaftlergruppe um Professor Schrappe, Mitglied des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen, ihre alternativen Standpunkte und Strategien im Umgang mit dem Virus vor. U..a mit dem Thema: Steuerung komplexer Systeme. Keine Sorge: Auf den ersten 20 Seiten bekommt man eine gute Zusammenfassung. Und vielleicht buddelt man dann auch im weiteren Volltext weiter. Bedauerlicherweise findet sich in tagesschau.de und deutschlandfunk.de darauf kein Hinweis
Fangen wir mal mit dem Ende an
Schlussbemerkung: Die genannten „9 Aspekte“ weisen alle in eine Richtung: zurück zur Linearität. Es kann natürlich nicht in Zweifel gezogen werden, dass zu Zeiten Robert Kochs (im ausgehenden 19. Jahrhundert) das bürokratische Organisationsprinzip (Experten, Zahlen, hierarchische Kompetenzzuordnung) in der Bekämpfung der Choleraein außerordentlich modernes Herangehen repräsentierte, denn die gesellschaftlichen Koordinationsformen in der damaligen Vorzeit waren nicht in der Lage, die Situation in den Griff zu bekommen. Allerdings kann ebenso wenig bezweifelt werden, dass sich die Gesellschaft in der Summe ihrer Manifestationsformen, also in derGesundheitsversorgung ebenso wie im Verständnis von Organisationen, Führung, Politikund Ökonomie – um nur einige zu nennen– seitdem erheblich weiterentwickelt hat. Kaum eine Disziplin ist bei linearen Konzepten stehen geblieben. So wenig wie die Ökonomie noch ausschließlich aus der Sicht der individuellen Nutzenmaximierung argumentiert oder die Organisationsoziologie aus der direkten Unterordnung („Maschinenmodell“), so wenig kann man heute Krankheit als rein molekulares Geschehen begreifen, das durch eine einzige Maßnahme (die Impfung) zu beherrschen ist. Stattdessen hat man gelernt, nicht vorhersehbare (aber wirkträchtige) Entwicklungen mit einzubeziehen, netzförmigeI nteraktionen zu berücksichtigen, mit Zweifel, Unsicherheit und Unklarheit umzugehen.Statt Linearität und Unterordnung sind heute Autonomie, Ambiguität bzw. VUCA( variability, uncertainty, complexity, ambiguity) die Code-Worte der Epoche.
Vor diesem Hintergrund muss man nicht nur erstaunt sein, dass eine Gesellschaft und ihre Führung seit 18 Monaten versucht, eine epidemische Situation mit nur einem Messwert zu steuern, hieße sie nun „7-Tage-Inzidenz“ oder Hospitalisierungsrate. Sondern man muss vor allem erstaunt sein, dass die ganze Bandbreite linearer, hierarchischer, gut messbar-biologistischer, ins Paternalistische reichender, letztlich einfacher Erklärungs- und Steuerungsansätze wiedersostark in den Vordergrund gerücktist. Obwohl in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Bereichen lineare zukomplexen Konzepten fortentwickelt wurden, die auf ein einfaches actio-reactio-Verständnis verzichten und dadurch mit dem Regelungsbedarf moderner Gesellschaften Schritt halten konnten, werden diese fortgeschrittenen Konzepte zur Bewältigung derSARS-CoV-2/CoViD-19 Pandemieoffensichtlich nicht als handlungsrelevant und lösungskompetent angesehen – wenngleich doch eigentlich Einigkeit besteht, dass heute gerade das Umgehen mit Komplexität die Kernkompetenz einer entwickelten Gesellschaft repräsentiert. Aus diesem Blickwinkel wird man über den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft noch viele Diskussionen zu führen haben.