Über einen problematischen Verzicht auf schulische Gestaltungsmöglichkeit
Jürgen Mietz
Soziales Lernen wird gemeinhin als das entscheidende Mittel angesehen, Verständigung und friedliches Zusammenleben zu erzielen. Soziales Lernen ist das, was sich Lehrer und Lehrerinnen für ihre Schüler am innigsten wünschen, nicht zuletzt als Voraussetzung dafür, dass Kinder den Lernstoff aufnehmen können. Aber auch Eltern, Politik und Gesellschaft scheinen sich nichts sehnlicher zu wünschen als dass soziales Lernen stattfinde.
Dennoch bleibt die Frage, ob das »Soziale Lernen«, so viel man sich auch von ihm erhofft, den Aggressionen, der Reizbarkeit, der Lust am Mobbing, dem Egoismus einen Riegel vorschieben kann. Und ob andererseits das »Soziale Lernen« die Subjekte so stärken kann, dass sie fähig zur Selbstbehauptung und Abgrenzung sind, ohne selbst antisozial zu werden. Spontan möchte man meinen, dass doch mit dem »Sozialen Lernen« der entscheidende Hebel für ein gutes Zusammenleben in Schule und für eine Vorbereitung auf das Leben nach der Schule gefunden sein müsste.
In den Debatten, wie eine humane Schule geschaffen werden könnte, wie die Entwicklung von Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme zu bewerkstelligen sei, spielt das politische Lernen, verglichen mit dem sozialen Lernen, eine untergeordnete Rolle. Politische Erziehung bleibt in den Überlegungen der Pädagogen und Psychologen zur Verbesserung der Zustände merkwürdig unterbelichtet.
Dass zeigt sich nicht nur im pädagogischen Alltagsgeschäft. Im Modellprogramm »Demokratie lernen und leben« der Bund-Länder-Kommission (2002 bis 2007) wird dem politischen Lernen keine eigenständige Wirkung zugetraut. Vielmehr setzt man auf den Transfer des sozialen Lernens für das spätere Leben und für größere politische Systeme. Dass diese Ineins-Setzung (das politische Lernen folgt dem sozialen) voreilig ist – darauf weist kritisierend Sybille Reinhardt hin (1).
Wenn sich ihre Kritik wesentlich auf die Folgenlosigkeit des sozialen Lernens für die Identifikation mit dem demokratischen System und auf seine Erosion durch das einseitige soziale Lernen bezieht, so stellen sich doch auch Fragen für die Bewusstseins- und Persönlichkeitsbildung der Schulmitglieder, wenn das politische Lernen für die »Lehre« von Verantwortungsfähigkeit so nachrangig ist. Wie wirkt sich diese Verkürzung auf Lernkultur und Schulklima, auf die Normen des Zusammenlebens und der Konfliktregelung, einschließlich der Gewaltprävention aus?
Von grundsätzlicher Bedeutung sind einige Feststellungen Sybille Reinhardts, die sie auf der Basis empirischer Studien macht:
- »Soziales Lernen ist nicht zugleich politisches Lernen« (862)
- »Hohe Prosozialität ging nicht einher mit dem Verständnis für das konflikthafte System der politischen Demokratie. Eher im Gegenteil: Die Gruppe mit dem höchsten Wert für Prosozialität stimmte den anti-pluralistischen Aussagen am stärksten zu.« (863)
Erklärungsversuche der Autorin
Es gibt den privaten Nahraum, in dem sich das soziale Lernen abspielt.Hier sind Wünsche und Erfahrungen konkret und erfahrbar. Hier ist die Möglichkeit, Anerkennung zu geben und zu bekommen, hier kann Harmonie hergestellt werden, aber hier besteht auch die Möglichkeit zu gehen.
Der Raum des Politischen ist fern. Er verlangt, unterschiedliche Interessen auszuhalten, konfliktfähig zu sein und die Unterschiedlichkeiten als natürlichen Bestandteil des politischen Lebens aufzufassen.
Wenn das soziale Lernen, die ihm verbundenen Trainings, in der Schulklasse stattfindet, so bleibt das Handeln im Nahraum des Privaten. Kaum je dürften Übungen und Überlegungen, die die Selbstkenntnis und Fremdkenntnis fördern, Folgeschritte nach sich ziehen, die auf die schulischen und außerschulischen institutionellen und politischen Implikationen verweisen. Für das politische Lernen entsteht aus dem sozialen Lernen kein Gewinn, es gibt nach den Untersuchungen keinen Transfer aus dem sozialen Lernen in das Feld der politischen Bewusstheit und des Interesses für politische und demokratische Prozesse. Wenn die private Welt des Klassenraums oder gar der Trainingsgruppe nicht mit der Schule als verfasster Organisation mit Gremien, Repräsentationen der Beteiligten zum Interessenausgleich und zur Konfliktregelung vermittelt wird, trägt das soziale Lernen gar zur Entpolitisierung und zum Abbau der Demokratie bei.
Für den Aufbau politischen Wissens und einer Gestaltung der eigenen Existenz mittels politischen Handelns und politischer Konfliktfähigkeit, hätte Schule sich selbst als politisch-gesellschaftliche Organisation zu verstehen und das in ihrem inneren Handeln für ihre Mitglieder erfahrbar zu machen. Ist die Verkürzung des sozialen und politischen Lernens auf das soziale Lernen unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten schon problematisch, so wird die Amputation des Politischen im sozialen und politischen Lernen auch die Erfüllung des Anspruchs auf Erlernen ziviler Formen des Interessenausgleichs und der Gewaltprävention der Schule selbst behindern.
Tatsächlich haben die Fälle, die Anlass zum Nachdenken über die Notwendigkeit sozialen Lernens geben, in aller Regel eine politische Dimension. Die politische Dimension kann sich in den Ausgrenzungserfahrungen und Unüberschreitbarkeiten von Bildungsgängen des Systems Schule zeigen, ebenso wie in Selbstbehauptungsversuchen und Egoismen. Schule, so wie sie organisiert oder desorganisiert ist, wie ihre Lernziele und zu erreichende Kompetenzen definiert werden, ist immer auch das Ergebnis politischer Entscheidungen. Sie sind in den subjektiven Befindlichkeiten und sozialen Auseinandersetzungen enthalten, ohne jedoch als Ergebnis von politischer Gestaltung ins Bewusstsein zu treten. Die Verzweiflung und ihre möglichen sozialen Folgen werden nur als individuelle und soziale Probleme verhandelt, nicht als politische.
Die innerschulischen Abläufe, die Fragen der Beteiligung auf der Ebene der Professionellen, wie auch auf der Ebene der Schüler und Eltern betreffen die politische Ebene des Handelns in der Schule. Wird oder bleibt das politische Lernen, die öffentliche Behandlung von Problemen und Konflikten unter Teilhabe der Betroffenen ausgeblendet und auf das soziale Lernen reduziert, kommt es zu einer Entfremdungserfahrung. Artikulationsmöglichkeiten bleiben verwehrt.,mit innerpsychischen wie auch sozialen Folgen. Diese können in Aggression, Depression, Scham und Rückzug aus dem gesellschaftlichen Prozess bestehen. Was tatsächlich ein verschobener – politischer – Konflikt ist, tritt am Ende nur noch als ein individueller oder sozialer in Erscheinung.
Was bei entsprechendem Bewusstsein auf der politischen Handlungsebene Anerkennung und Bearbeitung finden könnte unterbleibt, weil die politische Dimension in der Analyse und Reflexion der Beteiligten wegen des mangelnden Bewusstseins gar nicht zur Verfügung steht.
Das berührt eine nicht unproblematische Seite schulischer, aber auch allgemein gesellschaftlicher Entwicklung. Der politisch gewollte oder in Kauf genommene Abbau öffentlicher Leistungen (wie der des Bildungswesens) führt zu einer verstärkten Beschwörung des bürgerschaftlichen Engagements bei den Sozialleistungen, im Gesundheits- aber auch im Bildungswesen. Die Minderung der öffentlichen Leistungen geht geradezu einher mit dem Ruf nach mehr bürgerschaftlichem Engagement, ohne dass dieses je Aussicht hätte, jene zu kompensieren. Das bürgerschaftliche Engagement, wie es von Stiftungen, von Politikern und wohlmeinenden Menschen gefordert wird, ist also durchaus janusköpfig: In der Praxis befördert der Ruf nach Bürgerengagement das soziale Mitgefühl und höhlt das Denken in politischen Strukturen (der Verteilung, Normen der Konfliktregelung etc.) aus.
Die Rede vom sozialen Lernen, die zahlreichen angebotenen Sozialtrainings, die erblühenden und niedergehenden Projekte, die sich in und um Schule ansiedeln, stehen sämtlich in der Gefahr, die Entpolitisierung der Bildung und der Schule zu befördern. In einem anderen Sinne ist sie genau damit politisiert: Sie ist geworden und wird zu einem Markt vieler Anbieter, die selbst nur handeln können und wollen auf dem Niveau des sozialen Lernens, nicht des politischen. Schreitet dieser Prozess fort, löst sich die Schule als politisch verfasste Organisation auf. Obwohl sie eine gesellschaftliche Organisation ist, ist sie immer weniger in der Verfassung – in der Verfasstheit – sich als politisch-gesellschaftliche Organisation aufzufassen. Das schränkt die Aussichten ein, die von außen erwarteten Ziele und die selbst gesetzten Ziele zu erreichen. Es sei denn, Professionelle, Schüler und Eltern, Bürgerinnen und Bürger kämen in Bewegung. In Bewegung für das politische Lernen am Ort Schule, nicht zuletzt im Interesse eines zivilen Umgangs miteinander und einer gelingenden Gewaltprävention.
(1) Sibylle Reinhardt: Schulleben und Unterricht – nur der Zusammenhang bildet politisch und demokratisch, in Zeitschrift für Pädagogik, 6/2009, S. 860 ff.
Hier geht es zur Druckversion: Das soziale Lernen kann das politische Lernen nicht ersetzen