Auch bei den Kolleginnen und Kollegen der Schulpyschologie wird beim Thema »Depression« sehr stark auf ihren medizinischen und klinischen Begriff abgehoben. Diese Sicht infrage zu stellen, heißt nicht, ihn zu leugnen. Wie selbstverständlich wird jedoch die medizinische Nomenklatur und ihre Denkweise aufgenommen und vorausgesetzt. Nicht dass »Depression« keine medizinische, biologische oder klinische Seite hätte – nur sie zu sehen und sich auf ihr implizites Denk- und Theoriemodell einzulassen, hieße aber, Möglichkeiten der Interpretation und Einwirkung auszublenden.
Mit einer Phänomenologie der »Depression« die Not des einzelnen Menschen in den Blick zu bekommen ist ohne Zweifel nützlich und notwendig. Bei offenem Blick kommen wir nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, wie wir in unserer Gesellschaft, so wie wir sie konstruieren, in ihr leben und leben müssen, können und wollen. Welche Spannungen, Konflikte und Zumutungen wir erzeugen wir mit unserer Konstruktion und welche menschlichen Bedürfnisse bleiben dabei auf der Strecke?
Es ist erstaunlich, wenn unter Expert/inn/en praktisch nicht über Lebens- und Arbeitsformen, über Zug- und Druckverhältnisse, die sie hervorrufen, gesprochen wird. Der Druck, den nicht zuletzt auch Schule erzeugt und der politisch »gemacht« ist, und von Lehrern – gewollt und ungewollt –, weitergeben wird, wird beiläufig erwähnt. Den Lehrern und Lehrerinnen individuell nahezulegen, sie sollten aufmerksamer, flexibler in ihren Leistungsanforderungen und anerkennender der Person gegenüber sein, übersieht den Rahmen, in den Schüler und Lehrkraft eingespannt sind. Immerhin ist die Schule als staatliche und gesellschaftliche Institution auch darauf angelegt, Stress zu erzeugen. Selbstverständlich sollen Lehrer und Lehrerin wissen, was er/sie (mit-) verursacht. Das »systemische Hinterland« der Symptome gegenüber der Lehrkraft, den Bildungsplanern und den Politikern unerwähnt zu lassen, wäre jedoch unangemessen. Schließlich sind die Handlungen der Lehrkraft das letzte Glied einer umfangreichen Handlungskette. Wenngleich Lehrerin und Lehrer Verantwortung tragen, so sollten sie doch nicht allein in die Verantwortung genommen werden.
Das Leistungskorsett für Schüler und Lehrer ist in den vergangenen Jahren enger geworden. Die Lebensverhältnisse haben sich für die meisten Menschen verschärft, die Konkurrenz ist – politisch gewollt – gnadenloser geworden, mit einem Versprechen auf Freiheits-, Verantwortungs- und Autonomiegewinn. Mehr Menschen arbeiten nun für schlechtere Löhne in nicht selten prekären Verhältnissen. Schüler, Jugendliche und Erwachsene müssen damit zurechtkommen, dass sie weniger denn je eine einigermaßen gesicherte Perspektive vor sich haben. Sie werden in wachsendem Maße evaluiert, mit Erwartungen von Standarderreichung. Und gleichzeitig sollten sie einzigartig kreativ sein. Dabei sind die Inhalte der Begriffe nicht immer klar und ihre Relevanz ist fraglich. Gemessen wird, was messbar ist. Was wichtig ist, kann dann auch schon mal aus der Rechnung herausfallen. Zeit, Verstehen, Entwicklung, Beziehung zum Beispiel. Schule soll ein sicheres Fundament für die Lebensgestaltung bieten, hält aber jede Menge Brüche und Unwägbarkeiten für Lehrer und Schüler bereit.
Bindungen sollen sein, aber nicht allzu sehr. Hauptsächlich sollen sie funktional sein. Verlässlichkeit ist gefragt und Mobilität. Die ersten Bindungen schon geraten in diesen Strudel und können ein stabilisierendes Urvertrauen immer weniger vermitteln. Bindungen sind ersehnt, aber sie erzeugen auch Misstrauen. Wenn ich mich binde –, binde ich mich vielleicht zu sehr und bin nicht mehr autonom. Autonomie wiederum ist eine Norm unserer Zeit. Oder kann ich erst autonom sein, wenn ich Bindung habe? Bindungen sind ersehnt und gefürchtet, sie sind überladen mit Erlösungserwartungen und illusionär – die Enttäuschung ist nicht weit, möglicherweise. Dazwischen gibt es Normalität, aber die ist kaum noch selbstverständlich. Auch der Normale sieht in seinem Augenwinkel, was ihm blühen kann, und baut vor, schafft sich seine Reservate …
Alles in allem durchaus Vorgänge, die einen am Sinn des Lebens verzweifeln lassen können. Modernität ohne Sinn, Netz und Haltepunkte ist durchaus ein Nährboden für Depression. Wenn die Erfahrung von Nutzlosigkeit, Sinnlosigkeit, Unberechenbarkeit nur lange genug anhält und wenn ihre Ursachen und Zwecke verschwiegen und als Freiheit gepriesen werden, kann zeitweilige Entmutigung in dauerhaften Rückzug von der Welt umschlagen, der die Physiologie des Körpers in Mitleidenschaft ziehen kann. Unsere wachsenden Schwierigkeiten in einer Gesellschaft, die Konkurrenz, Angst, Misstrauen herstellt – die Ausschlussdrohung ist allgegenwärtig – verliert die selbstbewusste und eingebundene Subjekthaftigkeit ihre soziale Basis. Die Kappung der Bezüge zur Welt ist eine Reaktionsmöglichkeit, ein die Vitalität einschränkender Immunisierungsversuch, Ergebnis einer fehlgeschlagenen Dialektik von innen und außen.
Hier noch einige Links um das Thema Depression
Das egoistische Gehirn (taz-Artikel)
Reportage in der Süddeutschen Zeitung
Literaturhinweis über den Zusammenhang von Gesellschaft und Depression:
Alain Ehrenberg
Das Unbehagen in der Gesellschaft, 2011. Original: La société du malaise, !!
Das erschöpfte Selbst, 2004. Original: La fatigue d’être soi (Man beachte die Bedeutungsverschiebungen durch die Übersetzung)
Dazu Rezensionen aus der Zeit und aus der Süddeutschen
Weiter:
Groen, G. & Petermann, F: Depressive Kinder und Jugendliche, Hogrefe 2002
Nevermann, C. & Reicher, H.: Depressionen im Kindes und Jugendalter: Erkennen, Verstehen, Helfen. Beck, 2001
Weitere Links: