Psycholog’inn’en in der Ohnmachtsfalle?
Kürzlich war in Hamburg eine Vorlesung von Heiner Keupp zu hören. Das erschöpfte Selbst der Psychologie. Für die Überwindung ihrer Gesellschaftsblindheit«, war sein Thema. Ich war verblüfft, als ich eine Woche zuvor eine Einladung erhielt. Wie aus der Zeit gefallen wirkte es, von so einer Veranstaltung an einer Uni zu hören. (Hier ein ähnlicher Text von Heiner Keupp, hinzugefügt am 29.1.2018)
Heiner Keupp berichtete über die Entwicklung der Psychologie in den letzten 30, 40 Jahren. Über den Aufbau einer Gemeindepsychiatrie in Hamburg, den er mitbetrieb, über ähnliche Initiativen in anderen Städten, zum Beispiel München, wo Heiner Keupp lange Jahre als Professor arbeitete. Er blickte auf ein Werk zurück, das Spuren hinterlassen habe. Tatsächlich gibt es die Irrenhäuser von „damals“ nicht mehr; stattdessen gibt es ein komplexes System gemeindenaher sozialpsychiatrischer Hilfen. (Hier seine Standpunkte zur Entwicklung der Sozialpsychiatrie)
Seine Bemühungen und die vieler Gleichgesinnter galten einer Humanisierung der „Welt“. Sie wollten Beiträge zu mehr Selbstbestimmung der Menschen leisten. Diese brachten in der Patientenbewegung ihre eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse ein, nicht selten zur Irritation der Professionellen.
Aber irgendwann riss der Faden des emanzipatorisch gemeinten Projekts
Medikalisierung, Einpassung in ökonomische Funktionalitäten (Zwänge), DIN geprüft, breiteten sich aus. Die zunehmenden psychischen Erkrankungen gingen einher mit einer zunehmenden Zahl der Verschreibungen von Psychopharmaka. Und so paradox es scheinen mag: Die Stimme der Psychologie mit ihren Ansprüchen auf mehr Selbstbestimmung war kaum noch zu vernehmen.
Psycholog’inn’en waren in den gesellschaftlichen Bewegungen kaum noch vertreten. Sie traten als Angehörige ihrer Institutionen auf, die mehr oder weniger an Kontrolle interessiert waren. Die Empathie nahm ab. Solidarität und Empathie, das Wissen um die Lebenslagen nahmen ab.
Der Impulsstrom aus der Psychologie versiegt
Der seit einigen Jahren emiritierte Psychologieprofessor berichtete, dass er nach dem Einbruch des Aufbruchs Anregungen und Impulse im Wesentlichen von kritischen Erziehungswissenschaftlern, Soziologen und Psychiatern erhalten habe, aber kaum von Psycholog’inn’en. Er erwähnte unter anderem Zygmunt Bauman (Soziologe und Analytiker der sog. Postmoderne), Ulrich Bröckling (Soziologe und Autor des Buches »Das unternehmerische Selbst«, Alain Ehrenberg (Soziologe, »Das erschöpfte Selbst«, »Das Unbehagen in der Gesellschaft«), Allen Frances (Psychiater und Ex-Vorsitzender der DSM-IV Kommission in den USA), Wilhelm Heitmeyer (Soziologe, Erziehungswissenschaftler und Erforscher gesellschaftlicher Menschenfeindlichkeit), Stephane Hessel (Diplomat, politischer Aktivist). Warum die Psychologie so gesellschaftsblind werden konnte, untersuchte Keupp an diesem Abend nicht weiter.
Ohne Zweifel hatte sich die Psychologie auf die Seite der Anpassung und Effizienzsteigerung begeben. Ein früher, wichtiger Markierungspunkt für das sich nun ausbreitende Denken in Kategorien von (vermeintlicher) Effizienz und Leistung sei die „Verwandlung“ der Melancholie zur Depression gewesen, beginnend im 16. Jahrhundert und heute auf die Spitze getrieben.
Die Verachtung der Melancholie
Was einmal Kennzeichen einer vorsichtigen, diskreten Annäherung an die Welt gewesen sei, mit der Fähigkeit zur Einfühlung, des Ertragens von Trauer, sei unter dem Einfluss von Protestantismus und Kapitalismus zu einer verachtenswerten Vergeudung von Zeit und Geld geworden — und eben in seiner Zuspitzung behandlungsbedürftig. Nicht mehr die Erfassung eines Wesens war demnach das Ziel einer Erkenntnis, sondern eine Lösung im Rahmen eines Leistungskonzepts. Heiner Keupp zitiert Martin Luther aus seinen Tischreden, der seinen Teil zur Verachtung der Melancholie beitrug:
»Die Traurigkeit, die Epidemien und die Melancholie kommen vom Satan.«
Die Quelle dieses Zitats findet sich auf einer der Vortragsfolien des Hamburger Vortrags. Sie sind weitgehend identisch mit jenen eines früheren Vortrags.
Um sein Glück zu finden und Gott nahe zu kommen, galt es, busy zu sein. Effizienz und zunehmender Reichtum sollten als Zeichen von Gottgenehmheit gelten.
Angesichts des dramatischen Wandels und Einflusses des vom Protestantismus ermöglichten, beflügelten oder verursachten (es gibt da auch andere Theorien) Kapitalismus und hinsichtlich des ebenso dramatischen Umschwungs des psychologischen Berufsethos warf Heiner Keupp vier Fragen auf:
»Inwieweit haben denn die psychosozialen Berufsgruppen überhaupt noch eine Sprache für die Gesellschaft, in der sie ihre spezialistischen Aufgaben erfüllen?
Wird der Zusammenhang von subjektiven Leidenszuständen mit gesellschaftlichen Lebensbedingungen im globalisierten Kapitalismus überhaupt noch thematisiert?
Haben wir ein fachlich-professionelles Sprachspiel zur Verfügung, das die teilweise dramatischen gesellschaftlichen Strukturveränderungen begrifflich abzubilden vermag?
Wo ist die Stimme der psychosozialen Berufsgruppen in den Reform- und Protestbewegungen?«
Angesprochen auf die Zwänge, aber auch Verführbarkeiten von Psychologe’inn’en, die Organisationen/Institutionen − seien sie Behörden oder Unternehmen − bereithalten, meinte Herr Keupp, dass die Selbstorganisation der Professionellen von entscheidender Bedeutung sei. Die Arbeitsbedingungen der psycho-sozialen Berufsgruppen seien selbst tendenziell schon krankheitsfördernd.
Demnach geraten sie selbst in Bedingungen, die jenen ihrer Patienten und Klienten ähneln. Gleichwohl sollen sie gesund und orientiert bleiben und heilend und unterstützend sein. Um so notwendiger ist eine kontinuierliche Reflexion der eigenen Biografie im Verhältnis zur Berufsrolle. Sie sind darauf angewiesen, der zunehmenden Fragmentierung (dem Spezialismus, wie Keupp es in einer seiner Folien nannte) etwas entgegenzusetzen.
Das allerdings ist kein leichtes Unterfangen. Spezialistentum bietet die Gelegenheit, Exzellenz nahezulegen und nach außen eine besondere Form des Kümmerns (Kundennähe), ein Eingehen auf bestimmte einflussreiche Kreise darzustellen. Sie bietet Personal Gelegenheit, aus der Masse aufzusteigen und etwas „Besonderes“, „Eigenes“ zu werden und vielleicht gar Karriere zu machen. Damit ist die Hoffnung verbunden, aus der wachsenden Prekarisierung und Deprofessionalisierung, die eine Kränkung darstellen, ausscheren zu können.
Zwar ist psychosoziale, menschliche Arbeit zur Befriedung der gespaltenen Gesellschaft unverzichtbar (Heiner Keupp zitierte Untersuchungen, die einen Abbau menschlicher Arbeitskraft in technischen Feldern prophezeiten, nicht aber im psychosozialen Sektor), jedoch werden auch hier Lohnsenkungen, Effizienzmahnungen, eine mentale Roboterisierung weiterhin auf uns zukommen. Um ihrer eigenen Gesundheit und Existenz willen, wie auch um die Qualität ihrer Arbeit mit den Klienten willen wäre also Selbstorganisation dringlich.
Um der Ohnmachtsfalle zu entkommen rät Keupp zu bürgerschaftlichem Einsatz und zur Einmischung.
Er hält es für dringlich, die Bedingungen psychosozialer Arbeit und die der Lebensbedingungen der Klient’inn’en zu erforschen und die Ergebnisse in die Ausbildungen der Universitäten aufzunehmen. Die Zusammenhänge zwischen materiellen Lebensbedingungen und psychischem Leid seien immer wieder nachgewiesen. Eine in diesem Sinne vollständige Ausbildung finde de facto nicht statt, so dass Student’inn’en vom Studium her gesellschaftsblind ausgebildet werden.
Relativ wenig beleuchtet blieb, dass Verarmung, Zunahme psychischer Erkrankungen und der Verschreibungen von Psychopharmaka, Fragmentierungsprozesse in der Gesellschaft und in den „helfenden“ Institutionen, nicht vom Himmel fallen, sondern Ergebnis einer gezielten Politik sind, dass es Entscheider’innen gibt, die auf diese Weise Profite steigern und sich Reichtum auf Kosten anderer verschaffen.
Es ließen sich hier noch weitere Überlegungen anführen, zum Beispiel, ob die allseits konstatierten Erschöpfungen nicht ihren Widerpart und ihren Ursprung in den ökonomischen Verhältnissen haben. Und in einseitigen „Lösungsversuchen“. So wie sich Profitraten tendenziell verringern (tendenzieller Fall der Profitrate) oder auch: erschöpfen und mit Rationalisierungsmaßnahmen und Auspressungsversuchen kompensiert werden, so kommt es bei den Adressaten der Zumutungen − kleine Selbstständige, Arbeiter und Angestellte − zu einer verschärften Ausbeutung. Die wachsende Zahl der durch Automatisierung Freigesetzten, nur notdürftig Alimentierten, — sie bedeuten eine Verringerung der Kaufkraft — verringert allerdings die Aussichten, die hergestellten Waren zu verkaufen, so dass der Kreislauf der Zumutungen von Neuem beginnt.
Undiskutiert blieb weitgehend, warum gerade die Psychologie, die Psychologinnen und Psychologen in den Debatten um psychisches Leid, um Humanisierung von Schule, Gesundheitswesen und Arbeitswelt kaum zu vernehmen sind. Vielleicht komme ich dazu, in einem späteren Beitrag dazu einige Überlegungen anzustellen.
Noch eine Anmerkung zum Hintergrund der Veranstaltung
Sie ist Teil einer schon einige Jahre existierenden Seminarreihe
Eine weitere Beschreibung findet sich hier
Die Seminarreihe ist ein tapferer Versuch, der Austrocknung Kritischer und kritischer, emanzipatorischer Psychologie etwas entgegenzusetzen. Denn solche Lehrstühle wurden in den 80 er und 90 Jahren gnadenlos rasiert.
Das Interesse an solchen Veranstaltungen scheint riesig. Der Raum mit der Vorlesung von Herrn Keupp war überfüllt, die Diskussion anschließend rege.
Einige Ergebnisse der Seminararbeit liegen in Buchform vor.
Mitschnitte von weiteren Vorträgen gibt es hier:
http://lecture2go.uni-hamburg.de, Suchbegriff: „Menschenbilder“:
• – Prof. Dr. Maria do Mar Castro Varela (Berlin): “Rebellische Migrantinnen*. Wie Migration und Utopien die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionieren“ (15.6.2017) https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/21686
• – Prof. Dr. Jürgen Straub (Bochum): „Kulturpsychologie heute“ (31.6.2016) https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/l/3789
• – Dipl-Päd. Michael Müller (Universität Siegen und Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung): „Nur die Anderen sind böse: Abwertungen, Vorurteile und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (15.6.2015) https://lecture2go.uni-hamburg.de/veranstaltungen/-/v/17907
• – Prof. Dr. Helmut E. Lück (Hagen): „Psychologie im Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegszeit“ (21.6.2012) http://lecture2go.uni-hamburg.de/veranstaltungen/-/v/14738 – Prof. Dr. Frigga Haug (Esslingen): „Erinnerungsarbeit als emanzipatorisches Lernprojekt“ (7.6.2011) http://lecture2go.uni-hamburg.de/veranstaltungen/-/v/12425
• – Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück): „Systemtheorie und systemisch-humanistische Psychotherapie – Eine Herausforderung für unsere Gesellschaft?“ (18.5.2010) http://lecture2go.uni-hamburg.de/veranstaltungen/-/v/10905»