101 Jahre Weimarer Schulkompromiss

Interessante Entwicklungslinien von 1919 bis in die 2020er Jahre

Vor einigen Tagen machte sich ein Kollege »Gedanken zum Schulsystem in Deutschland«. Seine Hauptthemen waren einige Inkonsistenzen der Schule zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die sich subversiv störend und irritierend auf Lernen und Unterrichten auswirken. Es lohnte sich, darüber eine Debatte zu führen. Ich will hier nur einen Aspekt herausgreifen.

Das derzeitige Schulsystem basiert im Wesentlichen auf preußischen Denk- und Organisationsstrukturen. In gut gemeinter Absicht wurde 1919 die allgemeine Schulpflicht durch die Weimarer Verfassung eingeführt, was damals eine sozialpolitisch wegweisende Entscheidung gewesen ist. Beibehalten wurden hingegen die „preußischen“ Organisationsstrukturen, die autoritär und streng hierarchisch waren. Sie basieren vor allem auf dem Prinzip von Befehl bzw. Anweisung (vgl. Gesetze, Erlasse) und Gehorsam bzw. Umsetzung.

In der Tat wurden 1919 die Weichen für ein Schulsystem gestellt, das wir in wesentlichen Zügen noch heute haben und das uns immer noch zu schaffen macht.

Wie ist das möglich nach zwei Weltkriegen, die eng mit einem reaktionären, nationalistischen und militaristischen Vorlauf verknüpft waren? Und wie ist es möglich, dass im Schul- und Bildungssystem sich undemokratische, integrations- und partizipationsfeindliche Strukturen und Traditionen nach diesen Erfahrungen halten konnten?

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Essener Tafel – ein Szenario der Verrücktheiten

Die Maßstäbe in der Äußerung von Klagen und Vorwürfen an die Essener Tafel scheinen bar jeden Verstandes zu sein. Sie sind aber ein Beispiel, wie mit Hilfe von Medien und Politiker’inne’n nach monate-, auch jahrelanger Vorurteilsbildung die Schuld bei den ärmsten der Armen festgemacht wird. Tatsächlich wird jedoch eine systematische Bereicherungspolitik der Reichen betrieben. Und die stellen sich nun hin und kritisieren die Armenspeisung, Tafeln genannt.

Erstens. Warum gibt es überhaupt die „Tafeln“? Sie sind das Ergebnis einer gezielten Verarmungspoltik (Kanzler Schröder sinngemäß und voller Stolz: Wir haben den größten Niedriglohnmarkt geschaffen). Sie wird angewendet auf Deutsche und auf Zuwanderer. Sie wird verschleiert: Wir leben gut und gern in diesem Land.

Zweitens. Die Tafeln stehen in Gefahr, in ihrem Wohltätigkeitsdenken und in ihrem bürgerschaftlichen Engagement die Entpolitisierung voranzutreiben. Das ist die Kehrseite der Ehrenamtlichkeit. Sie können leicht die nützlichen Idioten einer Politik der Unterfinanzierung von Sozialstaatlichkeit werden.

Drittens. In ihrer Entpolitisiertheit kann es den wohltätigen Menschen leicht passieren, dass sie nicht die strukturellen Voraussetzungen ihres Handelns sehen und auf die Oberfläche, auf die dargereichten Schuldigen und Lösungen, verfallen: Die Ausländer sind’s und müssen raus.

Viertens. Schafft ein Regelwerk. Wer sich nicht an die Regeln hält, erhält einen Hinweis, wer wiederholt gegen die Regeln verstößt, wird ausgeschlossen. Wenn es gut ist, gibt es eine Belohnung oder ein Fest. So ähnlich machen das nicht wenige Schulen.

Fünftens. Macht euch stark für eine gerechte Sozialpolitik, für Umfairteilung.

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Kooperatives Lernen in der Systemfalle?

Es ist die Politik – oder der Zwang der Verhältnisse

Gerade fand ich einen älteren Artikel auf Bildungsklick. Zwanzig Jahre Kooperatives Lernen nach dem Konzept von Norm Green wurden gefeiert. Der Bericht von Brigitte Schumann zeigt, wie mit viel Engagement von Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und vielen anderen ein Versuch der Humanisierung allmählich unter die Räder zu geraten droht. Vielleicht ist er dort auch schon gelandet.

Seinerzeit schien das Kooperative Lernen wie gemacht für den pädaogischen Erneuerungsbedarf und -willen, der nicht wenige Lehrer und Lehrerinnen ergriffen hatte. Die Bertelsmannisierung der Schule schien sogar einen „offiziellen“, genehmigten Rahmen für Neues zu schaffen. Wer wollte, konnte schon damals sehen, dass ein idealistischer Überschuss die reformerische Hand führte. Seine Kehrseite war die Entpolitisertheit gegenüber den Zielen und Zwecken der Schule im Allgemeinen und der bertelsmannschen Konzeption im Speziellen.

Es sind deren Regeln, Stellgrößen etc. die den pädagogischen „Spaß“ verderben und gegen den die Engagierten so unverdrossen, manchmal wohl auch bis zur Erschöpfung und Resignation anarbeiten − weitgehend entpolitisiert, wie es schon seit den 20 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Tradition ist. Das wäre ein anderes Kapitel. Allerdings: wer von der deutschen Version des Neoliberalismus und seinem Wirken auf Schule nicht reden will, sollte von der pädagogischen Erneuerung durch Kooperatives Lernen schweigen. Oder von Inklusion. Oder von Kompetenzorientierung. Oder …

Brigitte Schumann fordert zurecht einen „bildungspolitischen Transformationswillen“ von einem Ministeriumsvertreter − sollte dieser Wille aber nicht auch von den Beschäftigten gefordert werden? Einschließlich der Analyse dessen, was den Zwang der Verhältnisse ausmacht?