Die Lage der Beratung in Hamburg ist seit mehreren Jahren beunruhigend. Weil es mich so beunruhigt, habe das hier noch einmal aufgeschrieben. Im nächsten Beitrag widme ich mich der Frage, ob es Anlass zur Hoffnung gibt, dass die Lage sich bessern könnte. Hoffnung ist da. Wir müssen etwas dazutun und nicht nur Zuschauer/innen sein.
Ein Politiker muss heutzutage den Eindruck vermitteln können, er habe Lage und Laden im Griff. Er oder sie hat es in Vorwahl- und Wahlzeiten so versprochen. Er (oder sie) orientiert sich an den attraktiven und attraktiv gemachten Leitbildern und Führungskonzepten. Einzelpersonen werden idealisiert, ihnen sollen wir uns anvertrauen (gab’s das nicht schon mal – mit wenig überzeugendem Ausgang?). »Wer Leitung bestellt, bekommt sie auch«. Und soll sich hinterher nicht beklagen. So oder so ähnlich die Botschaft des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz.
Einer seiner getreuesten Gefolgsleute ist der Schulsenator Ties Rabe. Damit müssen wir leben. Getreu seinem Führungsverständnis müssen zwei bis drei zentrale schulische Problemfelder bearbeitet und zum Erfolg geführt werden. Sie müssen so durchgearbeitet herauskommen, dass sie dem Versprechen gemäß sind: Alles im Griff.
Ranking ist kein Entwicklungsmotor
Damit schält sich heraus: Es geht nicht zwangsläufig um Verbesserung, sondern es geht um die Darstellung oder auch Inszenierung einer solchen – bei Herrn Rabe möglichst in Gestalt von Kennziffern. Damit liegt er auf der Linie allgemeiner Schulpolitik: Wer sich auf der Rankingliste der Bundesländer (oder anderer Verwaltungseinheiten) einige Prozentpunkte oder auch Stellen hinter dem Komma nach vorn/oben schieben kann, ist erfolgreich, was immer das bedeuten mag. Erinnert sei an die verwunderte Frage, wie es geschehen könne, dass eine Kuh in einem Graben ersaufe, der durchschnittlich 30 Zentimeter tief sei … Ja, das ist ein Problem.
Für dieses Problem waren Behörden einmal (wenn das auch nie ihr einziges Interesse war) so klug, dass sie Beratungsdienste einrichteten, die Beitrage zur Individualisierung des schulischen Geschehens leisten sollten. Hinhören, die Lebensgeschichten verstehen, die Dynamiken von Personen, Gruppen, Organisationen erfassen – das ist heute ein Ansatz, der bedroht ist.
Um nicht missverstanden zu werden: Tatsächlich ist es immer wieder nötig, Konzepte und didaktische Konzepte auf den Prüfstand zu stellen, wie es jetzt geschehen soll, warum nicht auch mithilfe von Kommissionen. (siehe auch hier). Dumm ist es allerdings, wenn für solchen Erkenntnisgewinn die Platzierung auf einem Ranking mit unsicherer Aussagekraft herhalten muss, deutet sich damit doch an, dass es nicht wirklich um ein intrinsisches Interesse an „Verbesserung“ geht, sondern um die pr-wirksame Bewegung auf einer Ranking-Skala.
Funktionierende didaktische Konzepte und gelingende Inklusion brauchen reflektierte Beziehung und Bindung
Und ebenso dumm ist es, wenn für die Umsetzung der Inklusion „Beratung“ im großen Stil für testdiagnostische und Zuweisungsaufgaben zu Fördermaßnahmen wie Schulbegleitung, eingespannt wird. Eine Bedrohung für Beratung und ihre Klienten, wie Katharina Gröning (zum Beispiel in: Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und sozialer Arbeit) schon häufiger beschrieb.
Erstaunlich und erschreckend zugleich ist, dass die Verbesserung, wie immer sie auch vorgestellt ist, nur als System aus Prüfung, Verweisung zu Spezialmaßnahmen gedacht werden kann. Als käme es auf Verstehen, Reflexion, Vertiefung, Bindung, Zeit nicht an.
Hinter dem sich totalitär ausweitenden Konzept technokratischer Steuerung des Lehrens und Lernens wird vergessen und vergessen gemacht, dass Lehren und Lernen auch eine sehr persönliche Angelegenheit ist. In ihr sind Lebensgeschichten, Gefühle, Identitäten und Identitätsverleugnungen angesprochen, Zugehörigkeitswünsche und Ausschlussängste angesprochen. Sie können niemals durch didaktische Konzepte und autoritäre oder smarte Steuerung allein aufgehoben werden. Wirksame didaktische Konzepte und gelingende Inklusion sind mit den Besonderheiten der Menschen in Schule und ihren Haltungen verwoben. Sie müssen erkannt und anerkannt werden.
Noch einmal: Nichts gegen die Überprüfung von Konzepten. Und auch nichts gegen Kommissionen. Jedoch Widerspruch, wenn sie gegenüber Beratung verabsolutiert werden und die Gebundenheit des Lernens und Lehrens an Beziehung und Bindung ignoriert werden
Schwarzes Loch der Beratung – Rettung durch Auflösung
Was der Wert von Beratung ist, kann im Rahmen ökonomisierter Steuerung nicht einmal mehr ernsthaft erörtert werden. An eine hochkarätig besetzte Kommission zur Beurteilung und Weiterentwicklung schulbezogener Beratung, ihres Stellenwerts für Schulentwicklung etc. ist mit Sicherheit nicht gedacht. Fehlende Kenntnis und Wertschätzung über und von Beratung führen in Hamburg dazu, dass ein Großteil der Beratungskapazitäten für die Diagnostik bei Anträgen auf Schulbegleitung verwendet wird. Kontinuierliche, prozesshafte Beratung mit Schüler/Lehrern/Eltern findet kaum mehr statt, ist entwertet. So züchtet der Senator ein großes, schwarzes Loch der Beratung heran. Die Arbeit mit Personen zur Erweiterung von Einsichten und Handlungsmöglichkeiten, Persönlichkeitsentwicklung und damit Schulentwicklung als ein wesentliches Ziel von Bildungsarbeit zu unterstützen, wird systematisch erschwert.
„Beratung“ wird politisch instrumentalisiert, wenn sie als enggeführtes Hilfsmittel sich mit Schulen in einer Organisation wiederfindet. Ja, man darf soweit gehen zu vermuten, dass die erzwungene Kohabitation zweier eigenständiger und unterschiedlicher Aufgaben die Rettung vor der Auflösung der Beratung ist: Beratung wird dadurch gesichert, dass sie als solche und mit professionellen Maßstäben betrachtet, nicht mehr stattfindet.
Widersprüchliche Beratungswirklichkeiten
Professionelle Beratung geht in den Untergrund, schafft sich vielleicht durch Vertrauensbildung und Erfahrung einen Rahmen, in dem das Arbeiten möglich ist (Interesse und Bedarf sind zweifellos vorhanden). Wer weniger erfahren und reflektiert ist, arbeitet sich an einer Vorstellung von Beratung ab, die in der Organisation kaum mehr zu verwirklichen ist. Erfahrungen des Scheiterns werden an der Beraterin/des Beraters Nerven zerren und sie/ihn nach Auswegen aus den Dilemmata suchen lassen. Anpassung an das Soll ist schließlich Überlebenschance. Als Beratung gilt schließlich, was nach dem politisch motivierten Deprofessionalisierungsprozess übrig bleibt: Im Auftrag der Schulpolitik Kinder vermessen und sie Förderprogrammen und -maßnahmen zuweisen.
Systemisch und systematisch wird so eine heterogene, widersprüchliche Beratungswelt erzeugt. Führungskräfte und Mitarbeiter/innen haben es mit gespaltenen, verborgenen und zugänglichen Haltungen und Identitäten zu tun. Kein Wunder, wenn da Täuschungen, Selbsttäuschungen und Enttäuschungen auftreten, die allesamt einen erquicklichen Arbeitsprozess behindern.
Jede/r richtet sich so gut ein, wie es geht, aber es geht nur begrenzt. Jeder zieht an einem anderen Seil, steht unter Druck, das eigene kleine Terrain zu sichern. Es entsteht ein Klima der Beobachtung, des Misstrauens und verdeckter und offener Konkurrenz. Die Aufmerksamkeiten für Prozesse „im Fall“ oder „im Projekt“ werden abgelenkt davon, zu überleben, nicht in die Mahlsteine der wirkenden Kräfte zu geraten, neue Betätigungsfelder oder Karrieresprünge sind zu wittern. Es geht darum, sich zu verkaufen. Es sei kurz daran erinnert, dass das fatale Wirkungen nach innen und nach außen hat.
Eigene Erfahrung und Literatur zeigen: Führungsarbeit ist unter solchen Umständen schwer, muss doch die Gruppe der in sich heterogen individualistisch orientierten Mitarbeiter/innen zusammengehalten werden. Denn: Es muss ein Bild des Erfolgs gezeichnet werden. Immerhin trägt die Leitungskraft »Verantwortung für …«. Womit sich in diesem vielfach heterogenen Kräftefeld die Leitungskraft identifiziert und wovon sie überzeugt ist, wird sie am Ende selber vielleicht gar nicht sagen können.
Die Kurzsichtigkeit der obersten Führungsebene hat sogar die Chance, als Weitsicht durchzugehen. Bekommt doch eine solche Person womöglich die Attribute der Konsequenz und Unbeirrbarkeit zugeschrieben. Beratung muss diese Person nicht interessieren, auch wenn man sagen mag, dass sie für sie doch politische Verantwortung trägt.
Vermutlich hat die politische Leitung nicht gewollt, dass die Dinge so heterogen sind und so schwer steuerbar und vieldeutig. Aber sie macht es, weil sie »Verantwortung« trägt. Und sie „als Macht“ einen legitimierten Spielraum für Willkür hat, solange ihr die Menschen folgen, wie Dirk Baecker es kürzlich in einem Interview nannte. Er geht übrigens davon aus, dass es auch so etwas wie »Willkürchancen der „Machtunterworfenen“« gibt.