Langsame Prozesse

Die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern sich – was tun die Professionellen?

Im Anschluss an den Kongress »Sozialpsychologie des Kapitalismus – zur Aktualität Peter Brückners« Anfang März 2012 fand ich einige interessante Artikel, die auch im Netz verfügbar sind. Klaus-Jürgen Bruder eröffnete den Kongress. Von Klaus-Jürgen Bruder gibt es hier weitere interessante Artikel, die auch für Schulpsychologinnen und Schulpsychologen und ihre Praxis interessant sein könnten: Sie befassen sich mit »Verdrängung der Frage nach dem Sinn«, mit Psychotherapie und Markt, Subjektvorstellungen.

Missverständnisse über das Menschenrecht auf Zugehörigkeit

Interview mit Reinald Eichholz:

„Man gewöhnt sich aufgrund der Behindertenrechtskonvention an, bei Inklusion nur an die Kinder und Jugendlichen mit Behinderung zu denken. Sobald man sich den menschenrechtlichen Hintergrund klar macht, steht aber fest: Inklusion meint alle. Jedes Kind hat das Recht dazu zu gehören, und zwar unabhängig von jeder Art der Verschiedenheit. Die Konvention verlangt, dass das nicht nur als verbindliche Vorgabe anerkannt wird; dieses Recht soll sich den Kindern im Schulalltag als „sense of belonging“, als Gefühl der Zugehörigkeit, mitteilen, nicht zuletzt eine Frage gelebter Demokratie. Die „Kultur des Behaltens“ ist dafür eine gute Richtung.““

Hier das ganze Interview bei bildungsklick

und hier noch eine Anmerkung: Weiterlesen „Missverständnisse über das Menschenrecht auf Zugehörigkeit“

Ohne Vertrauen in die Lehrerschaft keine Qualität

Im vergangenen Jahrzehnt meinten die Schulbehörden, Qualität ließe sich durch Kontrolle und Standardisierung herstellen. Zwar wurde viel davon geschrieben, es ginge um den Aufbau einer Vertrauenskultur. Auf der Ebene der Steuerung, der Aufteilung von Arbeitszeiten, der Arbeitszeitkontrolle kann man eher sagen, dass eine Misstrauenskultur entstand. De facto reduzierten die Verwaltungsebenen den fachlichen Austausch in den Kollegien. Die Möglichkeiten für gemeinsame Reflexion in kollegialen Fallbesprechungen oder in Supervision nahmen in Zeiten des Vorrangs der Unterrichts ab. So kam es zu einer Polarisierung: Unterricht statt Schulentwicklung. Dazu schreibt Adolf Bartz in der NDS (Neue Deutsche Schule), der Zeitschrift der NRW-GEW.

 

Steuerung statt demokratischer Entwicklung. Ergebnis: Frust und Reibungsverlust

Dem Anschein nach gibt es eine einzige und damit selbstverständlich »alternativlose« Form der Beratungsorganisation, die im Zuge der Inklusionsumsetzung zu realisieren ist, wenn REBUS und neuerdings die Fusion der REBUS mit den noch zu gründenden Bildungszentren propagiert werden. Alles soll effizienter werden, Eigenständigkeiten sollen gewahrt bleiben – warum dann die Fusion? – Alles wird vorbildlicher, und noch dazu für die ganze Republik. Was in den wenigen Diskussionsgelegenheiten erkennbar wird, ist, dass die Fusion eine politische Vorgabe ist. Einen inhaltlichen Entwicklungsprozess durch Kommunikation gibt es nicht.
Wie bei Reformen der Schule häufig geht es nicht darum, endlich die Bedingungen für ein personenbezogenes Lernen zu schaffen, sondern darum, Steuerung und Kontrolle im Schulsystem zu erhöhen, und zwar im Sinne eines unternehmerischen, auf Rentabilität orientierten Modells. Im Namen der Übersichtlichkeit und des Abbaus von bürokratischem Wildwuchs, werden Organisationen geschaffen, die Eingriffe und Steuerung erleichtern (sollen). Das spricht manche Wünsche, auch pädagogische, sowie Ressentiments an: Muss nicht wirklich etwas geschehen angesichts der wachsendenden Störungen im Schulsystem? – In diesem Sinne hat sich dann auch Beratung zu formieren. Weiterlesen „Steuerung statt demokratischer Entwicklung. Ergebnis: Frust und Reibungsverlust“

Politisch-ministeriale Durchsteuerung oder Fachlichkeit?

Es ist schon einige Tage her, dass ich diesen Artikel in der Süddeutschen fand. Und zwar in der Abteilung Medien. Was die mit Bildung und Schulpsychologie zu tun haben, erschließt sich vielleicht erst auf den zweiten Blick. Es geht um das Verhältnis der Macher und Gestalter vor Ort und ihrer allmählichen Entmachtung zugunsten der politisch und ministerial Verantwortlichen, die gemäß ihres Verständnisses entscheiden und verfügen — was nicht unbedingt von Fachlichkeit und Demokratie durchdrungen ist.

Erfahrungen artikulieren

Bei so viel Steuerungswillen, Struktursetzung ohne Diskussion, wie beispielsweise in Hamburg, aber auch in anderen Bundesländern, ist eine Frage: Was kann der / die Einzelne tun? Ist er oder sie ausgeliefert? Ist das Abwarten die einzig mögliche Lösung?

Ich glaube nicht. Viele Kolleginnen und Kollegen haben in den vergangenen Jahren oder Monaten mehr oder weniger mühselig sich Standpunkte erarbeitet. Für sich selbst, gemäß eigenen, inneren Leitlininien, für die Kollegen in der eigenen Organisation und in Auseinandersetzung mit ihnen, für die anfragenden Eltern und Lehrkräfte.

Bedauerlicherweise münden diese Erfahrungen bisher nicht überall in eine Diskussion über sie, in ein gemeinsames Berufsprofil. Ein solches gemeinsames Berufsprofil könnte die individuellen Bemühungen in der Wirkung verstärken, vielleicht sogar beflügeln. Der Ort, von dem aus ich handle — mein haltender Rahmen — , Status und Selbstsicherheit könnten profitieren und die Arbeit „flüssiger“ machen.

In den individuellen Erfahrungen, in ihrer Zusammenfassung liegt das Potenzial, für die Mitgestaltung neu zu bildender Organisationen.

Wer Bildung will, darf über Demokratie nicht schweigen

Jochen Krautz untersucht die Interessen, die hinter PISA stehen. Manches Gehabe der Bildungspolitik hält er für Scheindemokratie. Näheres findet sich hier in seinem Aufsatz.

Die sanfte Steuerung der Bildung

Weitere Hinweise zum Thema hier

Nicht unerwähnt soll die Bertelsmann-Stiftung bleiben. Sie hat sich schon viele  – und nicht wenige manipulative – Gedanken gemacht, worauf die Nachdenkseiten hinweisen: „Der Autor zitiert aus einem Papier der Bertelsmann Stiftung „Die Kunst des Reformierens. Konzeptionelle Uberlegungen zu einer erfolgreichen Regierungsstrategie.“ Hier ist der Link [PDF – 2.8 MB] auf dieses erhellende Stück strategisch geplanter Einflussnahme. Sie trägt im Kern einen antidemokratischen Charakter.“

Wir tun gut daran, dass wir das, was wir häufig als Nebeneffekte aus Desinteresse, Bürokratismus, Uninformiertheit von Bildung und Politik abtun, als Teil einer gewollten und gekonnten Strategie einordnen.

Zum Schluss noch ein Hinweis auf eine Tagung im November:

Tagung

Fachliches, Demokratie und Gesellschaft

Viel ist liegengeblieben in den letzten Tagen. Nicht zuletzt wegen interessanten Lesestoffs. Vielleicht hat jemand Lust, nachzulesen – Links, die von Interesse sein könnten

Kindliche Entwicklung, früh spät egal?

Gibt es die entscheidende sensible Phase?

Kann es Demokratie geben? Schlägt sie unvermeidlich um in Oligarchie? Anwendbar auch auf Behörden? Das Manuskript einer Sendung im Deutschlandfunk:

Das eherne Gesetz der Oligarchie

Demokratie: Modelle einer neuen Gesellschaft. Anwendbar auf Behörden und ihre Beschäftigten?

Demokratie und Selbstorganisation

Anderssein schwergemacht, ein Blick in die Justiz (-Verwaltung) mit der Zeit. Parallelen in anderen Organisationen scheinen nicht ausgeschlossen:

Der unbequeme Richter

Voll die Revolte – oder lieber doch nicht?

Voll die Revolte – oder lieber doch nicht?

Das Geld ist da – nur mal eben – oder gerade noch? – woanders (zweimal aus der Süddeutschen):

Das Geld ist da

Das Geld ist da II

Über Statistiken, Ängste und Behandlungsbedarfe. Hier geht es im Gesundheit und Pflege, in Psychologie und Beratung sind solche Tendenzen nicht unbekannt, Nr 10 anklicken:

Statistiken, Prognosen, Ängste, Bedarfe – wie echt und verlässlich sind sie?

Demokratie am Ende – oder mehr Demokratie wagen?

In zahlreichen Organisationsentwicklungsansätzen ist die Rede davon, dass es darum gehe, die die Erfahrungen und Potenziale der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einzubeziehen. Nicht selten mündete dies darin, Spielwiesen für Interessierte einzurichten. Nicht selten walzte später eine Maschine von Sachzwängen über zarte Pflänzchen der Beteiligung hinweg. Parallel wurden in nicht wenigen Bundesländern die die Mitbestimmungsrechte eingeschränkt (in NRW wurden sie nach der letzten Wahl von Rotgrün teilweise wieder hergestellt).

Was in Fragen der Finanz- und Europapolitik immer mal wieder zu hören ist, ist eine Klage über den Demokratiemangel: In Hinterzimmern würden keine oder nur schwach legitimierte Ausschüsse anordnen und verfügen, so der Ex-SPD-Europapolitiker Günter Verheugen. Gleiches lässt sich aber auch in der Bildungspolitik beobachten. Schulen und neueinzurichtende Dienststellen und Abteilungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Umsetzung der Inklusion, sehen sich zu einer Manövriermasse von Politik und Verwaltungen degradiert. Was in Schule noch ohne Widerstand hingenommen wird, entwickelt sich an anderen Stellen gegenteilig. Der Anti-S21-Virus wird zu einer Horror-Vision der Großstragegen, die zu wissen meinen, was gut und richtig ist. Inzwischen gibt es offen Forderungen, die demokratischen Rechte einzuschränken, mit Sympathie in zahlreichen Medien verbreitet.

Das ist ein Hinweis darauf, dass Ziele wie Inklusion, Bildungsgerechtigkeit, Bildung als Mittel der Emanzipation und auch Beratung als Mittel emanzipatorischer (Selbst-) Aufklärung auf eine breite Bewegung für Bildung angewiesen sind. Das Denken in Kategorien von Wahlperioden, der Zuständigkeit von Parteien greift zu kurz. Vorbild: die Anti-Atombewegung – oder die Bewegung gegen S21. Kleiner scheint es nicht zu gehen.