Schiefe Ebene: Von der Chancengleichheit zur Chancengerechtigkeit

In der öffentlichen Debatte wurde in den letzten Jahrzehnten der Begriff der Chancengleichheit durch den der Chancengerechtigkeit ersetzt. Damit ist der Skandal verschleiert, dass in diesem Zeitraum sich weder Gleichheit noch Gerechtigkeit entwickelt haben. Allerdings hat der Begriff der »Gerechtigkeit« den „Vorteil“, dass er unpräzise ist, sich aber moralisch, anspruchsvoll und erhaben anhört. Hans-Günter Rolff macht in der Neuen Deutschen Schule darauf aufmerksam. Die Gleichheit ist danach die Voraussetzung für Gerechtigkeit.

Im gleichen Heft gibt es noch weitere Artikel zum Thema.

Begibt man sich mit diesem Thema auf eine Zeitreise in die 1960 er und 1970 er Jahre und wieder zurück in die Gegenwart wird man das Gefühl nicht los, dass auf jeden Fall die sprachliche Kreativität eine ernorme Entwicklung durchlaufen hat, ohne dass sich an der Chancengleichheit oder Durchlässigkeit des Bildungssystems irgendetwas Entscheidendes geändert hätte.

Alle scheinen aktiv wie die Ameisen, immer geschäftig. Immer unterwegs mit neuen bahnbrechenden Modellen, Untersuchungen und Beweisführungen. Es gibt die kontextsensible Schulentwicklung. Aus Problemen wurden Herausforderungen und herausfordernde Lagen.

Was ist Zweck und Ziel der Aktivitäten in Politik und Behörden, in Gewerkschaften und Kollegien? Ist der (womöglich falsche) Begriff nicht vielleicht der Versuch der Verschleierung obszöner Verhältnisse und der Anbiederung, eine Überlebenskunst in herrschenden Verhältnissen zwecks Leugnung von Komplizenschaft und beschämender Ohnmacht? In dieser Begriffshuberei sehe ich eine Form der Selbstberuhigung, schließlich ist doch so viel Produktivität und Vielfalt ohne Substanz nicht denkbar, oder? »Ein rasender Stillstand« möchte man mal wieder sagen.

Wohin der Tanker fährt, scheint die Ameisen nicht zu interessieren; zudem sind sie geschichtsvergessen. Vielleicht wissen sie noch nicht einmal, dass sie sich auf einem befinden.

Urteil gegen Aspekte der Bildungsprivatisierung

Kleine Risse in der Technokratisierung der Bildung?

Geistessterben nennt Pierangelo Maset die Ergebnisse der so genannten Bildungsreformen. Dass jahrlange Kritik an Privatisierung und marktkonformer Regulierung Früchte tragen könnte, hofft der Professor aus Lüneburg

Aber nach und nach sickerte durch, dass einige der Instrumente der schönen neuen Bildungswelt nicht nur viele unerwünschte Nebenwirkungen hatten, sondern darüber hinaus möglicherweise mit geltendem Recht nicht vereinbar sind.

Im konkreten Fall klagte eine private Fachhochschule, weil ihr von einer Akkreditierungsagentur im Verlauf eines entsprechenden Verfahrens die Akkreditierung von zwei Studiengängen versagt wurde. Die Hochschule strengte ein Normenkontrollverfahren an, das feststellen sollte, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass ein privates Unternehmen wie eine Akkreditierungsagentur hoheitsrechtliche Aufgaben übernimmt.

Menschenrechte, Würde, Anerkennung

Mitgefühl und Anerkennung

Geflohene Kinder und Jugendliche arbeiten unter besonders komplizierten Bedingungen und Erfahrungen an ihrer Zukunft, gemeinsam mit Lehrern und vielen anderen Berufsgruppen. Für manch „Alteingessene“ ist das eine harte Probe: Haben sie nicht auch Anerkennung und Aufmerksamkeit verdient? Das haben sie, ganz sicher. Die neue Lage muss nicht in eine Konkurrenz um das knappe Gut Anerkennung und Aufmerksamkeit münden. Sie kann dazu anregen, lauter und offener als in der Vergangenheit, die Frage nach dem Sinn von Bildung, Wissen und Erziehung für alle zu stellen.

Für die Professionellen kann sich die Frage nach dem Grund und Motiv ihres Berufs noch einmal stellen

Oft steht am Beginn der beruflichen Laufbahn die Ahnung und das Wissen, dass Anleitung, Wissensvermittlung, Unterstützung und gekonntes Loslassen für Kinder und Jugendliche lebenswichtig sind; dieser Aufgabe möchte man sich verschreiben. Der Anfangsimpuls ist in der Regel ein humanistischer. Durch Bürokratisierung, Industrialisierung des Lehrens und Lernens und durch Verknappung von Mitteln entfremden wir uns jedoch unserer Ausgangsmotive und Kinder entfremden sich von ihrem Wunsch zu lernen und ihr Können zu erproben.

Weil wir (auch) viel reden müssen, haben Fragen und die Suche nach Antworten nach dem Sinn von Bildung und Wissen eine neue Berechtigung. Beispiel: Schule ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch der Begegnung. Nicht zuletzt werden hier Antworten auf die Frage gegeben: Was zählt der Mensch?

Humanistische Ansprüche

In Parlamenten und Schulausschüssen, so in NRW am 13.4, geht es in diesen Tagen um die Strukturen, Inhalte und Ressourcen der Schulpolitik unter den neuen Bedingungen. Aber auch in den „Vorflüchtlingszeiten“ war vieles nicht gut, so dass Gelegenheit ist, der Schulpolitik eine neuen, humanistischen Ton zu geben.

So sehr in Verfassungen und Leitlinien von Berufsverbänden ein humanistischer Anspruch formuliert ist, so sehr weht denjenigen, die damit ernst machen wollen, der Wind ins Gesicht (1). Darf man so (2) oder so (3) („Die EU gehe „sehenden Auges illegal vor“, urteilt Michalski über die Umsetzung des Abschiebepakts mit der Türkei, den maßgeblich die deutsche Regierung ausgehandelt hat“) mit Menschen umgehen? Welche Signale werden damit für die neu Angekommenen, für die, die schon länger hier sind, für die vielfältig Engagierten gesetzt? Die große Politik ist ein einziger Affront für eine Politik der Menschlichkeit, an der sich viele versuchen. Die Politik unterläuft und untergräbt die Werte, für die sie angeblich steht. Eine fortwährende kognitive, emotionale und gesellschaftliche Dissonanz.

(1) Klaus-Jürgen Bruder, (Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie) im Interview

(2) Stellungnahme von Pro Asyl

(3) Bericht German Foreign Policy

Literaturhinweise für den aufgeweckten Berater und die aufgeweckte Beraterin

Hier wurden schon mehrfach die

Beiträge der »Gesellschaft für Bildung und Wissen«

(siehe Linkliste rechts) erwähnt. Nun haben einige ihrer Mitglieder Beiträge in einem Buch zusammengefasst: Weniger ist weniger. Der stellvertretende Geschäftsführer der Gesellschaft hier in einem Interview

Nicht minder bedeutsam scheint mir das neue Buch von Katharina Gröning.

Sie befasst sich mit der merkwürdigen Situation, dass seit vielen Jahrzehnten sich Beratung in nichtklinischen Zusammenhängen mehr oder weniger stark einer therapeutischen Orientierung bedient. Ich vermute, dass das einer der Gründe für die relative Schwäche von Beratung, für eine Schwäche der „Community“ ist und zu einer Schwächung des Ansehens von Beratung durch die „haltenden“ Institutionen beiträgt. Katharina Gröning stellt dem eine Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit“ gegenüber.

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Für psychoanalytisch orientierte Berater/innen

und für solche, die sich mit den Wirkungen von Vorgaben und Richtlinien auf die Praxis befassen wollen, könnte Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse? Eine kritische Bilanz nach 50 Jahren Richtlinien-Psychotherapie von Interesse sein.

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Der Zusammenhang von Psyche und Ökonomie

wird in dem von Almuth Bruder-Bezzel, Klaus-Jürgen Bruder, Karsten Münch herausgegebenen Buch »Neoliberale Identitäten der Einfluss der Ökonomisierung auf die Psyche« erörtert.

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Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit

dürfte uns nicht unbekannt sein. Carlo Strenger macht sie zum Thema

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Wie werden Gefühle wahrgenommen,

und wie trägt eine spezielle Abtrennung von Wahrnehmung und Handeln zu einer Lähmung bei? Franz Witsch: Die Politisierung des Bürgers, 4.Teil: Theorie der Gefühle, Beiträge zur Wahrnehmung und Produktion sozialer Strukturen gibt Aufschluss.

Das war das Leseprogramm für den Rest des Jahres.

Die Risiken der Stiftungen

Die großen Stiftungen sind Instrument der Entdemokratisierung und treiben die Herrschaft des Kapitals voran

Das gilt besonders für die Bertelsmann-Stiftung. Sie sieht Bildung als Markt. Stiftungen arbeiten im Hintergrund und verändern schleichend den Alltag. In der Regel werden sie wenig von den Medien beachtet und von der Politik gefördert. Und sie stifen nichts. Um so besser, dass wir hier

im Deutschlandradio und

hier im Freitag Ausnahmen verzeichnen können

Bildung und Wissen hat langen Atem

Die Gesellschaft für Bildung und Wissen greift Zweifel an Bildungsreformen auf

Die Irrationalität der Reformen ist für all die mit Händen zu greifen, die das gut Gemeinte noch nicht mit dem Guten verwechseln und die sich eine realitätsnahe Haltung bewahrt haben. Wer das Versprochene mit dem Realisiertenkonfrontiert und im Bewusstsein gehalten hat, welchen ureigenen Zielen und Aufgaben das Bildungssystem zu dienen hätte, kann nur eine Missbildung feststellen.
Die Kritik gilt vor allem der so genannten Kompetenzorientierung. Sie ist nach Andreas Gruschka und der Gesellschaft für Bildung und Wissen ein Gr0ßschaden der Bildung. Die Gesellschaft für Bildung beschränkt sich nicht auf Kritik, sondern sie macht Vorschläge (unten auf der Seite der Link zur pdf), wie es weitergehen kann.

Europapolitik als Blaupause für Gewalt und Mobbing

Die große Bühne der Europapolitik bot in den letzten Wochen und Monaten reichlich Anschauungsmaterial dafür, wie Feindseligkeit und Aggression, Verachtung und Demütigung erzeugt werden. Nicht zu vergessen Manipulation und Desinformation. Ob die Lehrer und Lehrerinnen die Wirkungen von Politik und Medien in ihre Erziehungsaufgabe integrieren (können)? Eigentlich müssten sich die Zuständigen (und Nichtzuständigen) für Gewaltprävention besorgt zu Worte melden. Ebenso die Senatoren und Minister/innen, die für Schule und Erziehung Verantwortung tragen. In Verfassungen und Schulgesetzen wird großes Gewicht auf Verständigung und Menschenwürde gelegt. Wo bleiben die Aufrufe zur Mäßigung?

Die taz greift den Skandal der schwarzen Pädagogik auf

In der Aggressionsforschung wird beobachtet, dass jemand, der sich im Recht fühlt und eine ungleiche Beziehung zum Gegner aufbaut – in diesem Fall die eines Erwachsenen zu einem Kind – sich auch berechtigt fühlt zu strafen. „Hat man einen anderen Menschen erst einmal abgewertet, fällt es leichter, ihm wehzutun“, schreibt der Psychologe Elliot Aronson. Und in der Sozialpsychologie wurde nachgewiesen, dass Empathie und Aggression eine negative Korrelation eingehen, soll heißen, je weniger Empathie eine Person aufbaut, desto mehr greift sie auf aggressive Verhaltensweisen zurück. Hilfe an ein Land daran zu knüpfen, dass es wirtschaftlich ausblutet, ist Aggression.