Der Mikrokosmos der Bildungsbenachteiligung

oder die Ordnung der Dinge

Somit stellt sich die Frage, wie stark die Erfahrungen der Lehrer_innen in der Entwicklung des Bildungssystems überhaupt berücksichtigt werden und ob die Logik des mehrgliedrigen Schulsystems nicht längst überholt ist.

Hier geht es zum Artikel Das Fundament der sozialen Schere

http://wasbildetihrunsein.de/2016/09/12/das-fundament-der-sozialen-schere/

 

Beratung im Umbruch – Beratung auf Abwegen?

Beratung wandelt sich von einem Mittel der Selbstbestimmung und Mündigkeit zu einem Mittel der Steuerung für Politiker und Planer. Wertvolle Bestandteile von Beratung werden dabei aufs Spiel gesetzt. Vor allem sind es solche Bestandteile, die Einsichten in die eigene Persönlichkeit und Organisation ermöglichen. Und nicht zuletzt auch solche, die eine kritische Betrachtung ermöglichen und das Beurteilungs- und Gestaltungsvermögen stärken.

Gestaltungsmöglichkeiten zurückzugewinnen und damit Voraussetzungen für Rückgrat zu schaffen, könnte eine schulische und gesellschaftlichen Aufgabe sein. Beratung kann mithelfen. Wenn Menschen daraufhin erzogen und beraten werden, in vorgefertigten Plänen, Laufbahnen und Modulen zu funktionieren, wird es eher gefährlich, siehe VW, FIFA, DFB, Deutsche Bank …

In meinem jüngsten Aufsatz gehe ich (wieder einmal) unterschiedlichen Beratungsverständnissen nach. Dieses Mal aber mit neuen Ansätzen. Ich verdanke sie Katharina Gröning und ihrem Buch »Entwicklungslinien pädagogischer Beratung«. Aber auch in dem alten »Heft 39«, einem Gründungspapier der nordrhein-westfälischen Schulberatung, habe ich noch einmal gestöbert.

Von Tests, Algorithmen, Persönlichkeit, Individualität, Genen und Umwelt

Von Tests zu Algorithmen ist es kein weiter Weg. Was in beiden Verfahren auf der Strecke bleibt, ist die Sensibilität für die besonderen Umstände des jeweiligen „Falls“, der ja immer ein lebendiger Mensch ist, dem das Recht auf und die Fähigkeit zur Veränderung nicht abgesprochen werden darf.

Götz Eisenberg befasst sich mit dem anscheinend unaufhaltsamem Drang, menschliches Verhalten industriell und in großem Maßstab vorherzusagen und zu kontrollieren. Nahezu zwangsläufig mündet das in eine Gesellschaft voller Überwachung. Das Überprüfen und Sortieren mit mehr oder weniger verlässlichen Tests nimmt nicht zuletzt in Schule zu, im Namen der Gerechtigkeit und bestmöglicher Förderung.

Die sonderpädagogische Formierung von Inklusion und Beratung

Worüber wir reden, wenn wir von Inklusion und Beratung reden

Ohne die Gründungsgeschichte der Sonderpädagogik und ihr Verhältnis zur allgemeinen Pädagogik sind die gegenwärtige Ausgestaltung der Inklusion und die Perspektiven von Beratung kaum zu verstehen

Ein Blick in die Geschichte ist lehrreich. Was waren die Entstehungsbedingungen für das, was wir heute vorfinden? Manchmal erscheint das Vorgefundene so selbstverständlich und in Stein geschlagen, dass man es sich kaum anders vorstellen kann. Man mag an den tatsächlichen oder vermeintlichen Unsinnigkeiten gegenwärtiger Regelungen und Gewohnheiten verzweifeln. Oder im Unbehagen steckenbleiben. Genaueres Hinschauen kann nicht selten zeigen, dass gegenwärtige Blockaden, Stillstände oder Einseitigkeiten ihre Ursprünge in eingefrorenen Dynamiken der Vergangenheit haben. Sie zu kennen ist noch nicht die Lösung, aber ihre Kenntnis und ihr Verstehen ist Voraussetzung für eine Lösung, für die Auflösung von Erstarrungen. (Da ist schon wieder mal ein Geheimnis der Psychologie entschlüsselt.)

So könnte es mit der Ausgestaltung der Inklusion und der Organisierung von Beratung und schulpsychologischer Beratung gehen. Das gilt für alle Bundesländer. Aber möglicherweise ganz besonders für Hamburg, weil hier von Politik und Behörde geradezu beschwörend immer wieder die Bindung von Beratung und Inklusion aufgerufen wird und gleichzeitig die Sonderpädagogisierung von Beratung und Inklusion stattfindet. Nicht zuletzt an solcher Stelle dürfte sich bemerkbar machen, was Dagmar Hänsel als „Glaubenssatz der Sonderpädagogik, dass die Förderung aller Kinder in ihrer Verschiedenheit zwingend sonderpädagogische Kompetenz erfordert, die wiederum an die sonderpädagogische Ausbildung gebunden wird(.)“ beschreibt.

Man konnte sich ja schon länger fragen, warum die Umsetzung der Inklusion in Deutschland stark mit der Sonderpädagogik verbunden ist, wo doch die Sonderpädagogik nicht unwesentlich für die Sonderschulsystematik stand und steht. Eine andere Herangehensweise ist vorstellbar, aber gleichwohl nicht nahe genug an der Schwelle zur Umsetzbarkeit: Wo es um Persönlichkeit, Einstellungsänderungen, Reflexion, Teamentwicklung etc. geht, könnte man sich durchaus vorstellen, dass Schulpsycholog/inn/en und in prozessorientierter Beratung ausgebildete Experten eine Rolle spielen. So ist es aber nicht gekommen – gerade nicht in Hamburg, wie auf dieser Website schon häufiger nachzulesen war. (Was nicht ausschließt, dass es in Hamburg immer auch Bemühungen gab und gibt, diesen Weg offen zu halten.)

Wenn Inklusion inhaltlich, aufsichtlich, politisch, strukturell sonderpädagogisch geprägt ist, hat das eine Vorgeschichte. Dies zeigt deutlich ein Interview, das Brigitte Schumann bei Bildungsklick mit Dagmar Hänsel führte.

Dagmar Hänsel ist ehemalige Professorin für Schulpädagogik mit den Arbeitsschwerpunkten Grundschule, Theorie und Geschichte der Sonderpädagogik und Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern. Weiterlesen „Die sonderpädagogische Formierung von Inklusion und Beratung“

Ist die Inklusion die Steigbügelhalterin für die Privatisierung des Schulwesens?

Clemens Knobloch lässt mit seinem Aufsatz die Schwierigkeiten mit der Inklusion in einem neuen, und mir scheint, klarem Licht, verstehbar werden. Er bezweifelt die humanitäre Gesinnung, die allenthalben bekundet wird, wenn über Inklusion gesprochen wird. Die hoffnungsvollen (und anstrengungsbereiten) Befürworter der Inklusion müssen sich fragen, ob sie nicht einer Variante der neoliberalen Politik auf den Leim gegangen sind. Wie müssen Theorie und Praxis der Überwindung von Ausschluss aussehen, damit Inklusion mehr ist als ein moralischer Anspruch, mit dem Kinder, Eltern und Lehrer vorgeführt werden und zudem noch Agenten von Privatisierungspolitik werden?

In der neoliberalen Bildungsideologie ist das (kostenfreie) öffentliche Schulwesen als staatliche Restinstitution für diejenigen vorgesehen, die sich private Bildungseinrichtungen nicht leisten können. Der Staat hat sich nur um die zu kümmern, die nicht am Markt teilnehmen können. Viel zitiert wird in diesem Zusammenhang der OECD-Policy Brief Nr. 13 aus dem Jahr 1996, eine wahre Fundgrube nützlicher Ratschläge für Staatsakteure, die das öffentliche Bildungswesen gesund- oder besser kranksparen wollen, ohne dafür politische Rechnungen serviert zu bekommen (mehr dazu in Knobloch 2012: 115-118). Geraten wird da u.a. zum schrittweisen Absenken der angebotenen Schul- und Bildungsqualität im öffentlichen Bereich. Und wenn die auch noch politisch korrekt und moralisch geboten ist wie im Falle der Inklusion, kann man das getrost als das Ei des Kolumbus bezeichnen.

Inklusion in Hamburg: Jetzt doch höherer Förderbedarf

Die taz berichtet von einem vorläufigen Ende der Schönfärberei:

Auch in den Schuljahren 2013/14 und 2014/15 starten die Schulen mit – rückblickend bestätigt – fast Zweidrittel Unterausstattung. Rabe gewann Zeit, in dem er die Uni-Professoren Karl-Dieter Schuck und Wulf Rauer beauftragte, den LSE-Anstieg zu untersuchen. Doch auf deren Fazit – die LSE-Quote von 6,6 Prozent sei für eine Großstadt plausibel – gab er wenig, und ordnete für diesen Herbst die Einzel-Gutachten an – gegen den ausdrücklichen Rat von Rauer und Schuck.

Hier die Pressemitteilung der Schulbehörde

Die Sackgasse der Kompetenzorientierung und der Objektivierung

Mit großem Aufwand wird der Schule das Konzept der Wissensvermittlung, des Verstehens von Zusammenhängen, der Vertiefung in Stoffgebiete ausgetrieben. Das hat jüngst noch einmal Konrad Paul Liessmann beschrieben. Wer sich umfassender damit befassen will, wird auf den Seiten der Gesellschaft für Bildung und Wissen fündig.
Ein Aspekt der Kompetenzorientierung ist, dass es ihr weniger um Inhalte und Bedeutungen geht als um Fertigkeiten und Fähigkeiten. Diese werden als Bereitschaften aufgefasst, die unabhängig von Inhalten erworben werden und auf Problem(lösungen) angewendet werden sollen. Die Folgen, teilweise ins Absurde reichend, werden in den erwähnten Quellen beschrieben. So wird von Prüfungsaufgaben in Fachgebieten berichtet, die in ihrer Beschreibung die Lösung mehr oder weniger versteckt enthalten, also kein Wissen mehr brauchen.

Ein anderes Feld der Pädagogik, auf dem ebenfalls die Beschneidung der Wirklichkeit erkennbar zu werden scheint, könnten Förderpläne sein, wie auch Anfragen und Anträge auf Schulbegleitung.
Seitdem ich sie häufiger lesen muss, bekomme ich den Eindruck, sie sollten neutral, jenseits von Beziehung und Emotion geschrieben sein. So als käme Pädagogik ohne sie aus oder würden sie gar stören. Es scheint, als sei das Ziel, sie im Stil einer kalten, objektiven Naturwissenschaftlichkeit zu verfassen. Die Dokumente wirken oft aseptisch und auf besondere Weise unwirklich. Abgesehen davon, dass sie in der Regel in ihrer Allgemeinheit kaum Anhaltspunkte für „nächste Schritte“ und Erkennbarkeit „erfolgreicher Schritte“ bieten, strahlen sie Beziehungs- und Bindungslosigkeit aus.
Weiterlesen „Die Sackgasse der Kompetenzorientierung und der Objektivierung“

Verfehlen die optimierten Ausbildungskonzepte systematisch Verantwortung und Persönlichkeit?

In „abgelegenen“ Sendereihen des Radios tauchen gelegentlich Themen auf, die in den Mittelpunkt der Diskussion gehörten, zumindest bei Psychologen. Es hat zumindest den Anschein, dass diese kaum noch Verteidiger der Persönlichkeit, des Subjekts etc. sind. In der Schul- und Arbeitsverwaltung scheinen sie sich den Optimierungskonzepten der Rationalisierer auszuliefern – oder es fehlen ihnen die Worte und Begriffe für das, was da geschieht. Gerade wer es mit der Verbessserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, mit verantwortlichem Umgang mit Mensch und Natur ernst meint, kommt um die Stärkung von Persönlichkeit und Individualität nicht herum. Die aber werden von modernen Ausbildungskonzepten systematisch untergraben, wie der Unternehmensberater Thilo Baum zeigt. Hier zum Nachhören.

Nicht zuletzt im Zusammenhang der Umsetzung der Inklusion, der kaum reflektierten Inklusionsverständnisse, die ihr zugrunde liegen, ist es interessant, sich mit den Optimierungskonzepten in verschiedenen Epochen zu befassen. Systematik und Reihenuntersuchungen faszinieren nicht selten Menschen mit Allmachtsgefühlen und Kontrollansprüchen, nicht selten mit eben dem Anspruch, die Welt verbessern zu wollen. Dahinter hat dann das konkrete Individuum zurückzutreten. Perfektheits- und Reinheitsforderungen, wie auch ihre zentral(istisch)e Umsetzung durch Politik und williger Wissenschaft können unterschiedliche Formen annehmen, wie eine Sendung im DLF zeigt.

 

Inklusion durch Sonderpädagogik?

Brigtte Schumann setzt sich weiter mit dem RTI-Konzept (Response to Intervention) auseinander. Hier zwei Zitate aus ihrem neuesten Artikel:

Anstatt sich zu fragen, mit welchen pädagogischen Maßnahmen die soziale Teilhabe aller Kinder gesichert werden kann, stellen Lehrerinnen und Lehrer die Mitgliedschaft von sog. Risikokindern im Klassenzimmer in Frage. Da die Interventionen als rigide durchgeführte Instruktionen in der Regel außerhalb des Klassenzimmers ablaufen, ist die Botschaft für alle Beteiligten klar: Der Klassenraum ist eine behindertenfreie Zone. Die Stufen innerhalb von RTI wirken so als Teile eines stigmatisierenden Etikettierungsprozesses, auch wenn es offiziell um präventive Förderung geht.

Inklusive Pädagogik misst Kinder nicht an einem Normalitätsverständnis, das vorschreibt, was Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt zu können haben. „Das Prinzip der grundlegenden humanen Anerkennung setzt das Konstrukt des schlechten Schülers außer Kraft“. „Jedes Kind ist auf seiner Stufe kompetent“, so Prengel. Sie begründet dies mit einem menschenrechtlich fundierten Heterogenitätsverständnis, das auf dem grundlegenden Prinzip der Gleichheit beruht. Dieses Verständnis ist für die inklusive Bildung konstitutiv. Es geht dabei um die Realisierung einer Gesellschaft, in der man nach der Formulierung von Adorno „ohne Angst verschieden sein“ kann.

Ein Thema, dass auch Psychologinnen und Psychologen interessieren könnte. Soll es darum gehen, Kinder und Jugendliche systematisch zu erfassen und sie ggfs. bei Erreichen bestimmter Grenzwerte einer Förderung per technischer Hilfsmittel zuzführen (um den technokratischen, unpersönlichen Jargon anzuwenden), sie einer Optimierungsforderung zu unterwerfen oder geht es um Erkennen und Verstehen ihrer Subjektivität und Persönlichkeit, ebenso wie ihrer Lebenszusammenhänge?