Schulpsychologie als Unterstützungssystem für Schule

Anfang der 1990 er Jahre wurde in der deutschen Schulpsychologie heftig diskutiert. Sollte sich die Schulpsychologie damit zufrieden geben, die Schäden, die Schule am Kind anrichtet, am Kind zu reparieren? Oder sollte sie nicht ihr Potenzial für die Entwicklung der Schule, für die Unterstützung der in ihnen arbeitenden Lehrer nutzen? Die Beantwortung der zweiten Frage mit einem Ja löste den so genannten Paradigmenwechsel der Schulpsychologie aus. Er wurde in den Bundesländern unterschiedlich aufgegriffen. Die Zeiten dafür waren nicht schlecht. In vielen Kultus- und Schulministerien waren Einsicht und der politische Wille vorhanden, dass Schule als System einen erheblichen Entwicklungsbedarf hatte und dass es auch darum gehen sollte, die Rolle von Person und Persönlichkeit im pädagogischen Prozess anzuerkennen. Und somit auch der Schulpsychologie einen Platz einzuräumen. Lehrerberatung, Supervision und ähnliche Beratungsformen gehörten damit in vielen Ländern zum Spektrum schulpsychologischer Angebote. Damit öffnete sich die Schulpsychologie auch deutlicher als zuvor zu Fachrichtungen der Organisations-, Sozial- und Arbeitspsychologie.

Eine neue Entwicklung gegenüber dem Beginn der 90 er Jahre ist, dass Schule und Schulpsychologie mehr und mehr im Sinne des Wirschaftsstandorts Deutschland ausgerichtet und funktionalisiert werden. Die Fremdorientierung an „Employability“ und Betriebswirtschaflichkeit im Sinne der aktuellen Kriterien wirtschaftlicher Nützlichkeit schafft heute wieder neue Bedingungen. Die emanzipatorischen Ansätze des Paradigmenwechsels sind heute gefährdet durch „Unverständnis“ für die unterschiedlichen Belange und Aufgaben von Beratung und Schule. Das aber ist ein anderes Thema.

Den Artikel von Helmut Heyse aus dem Jahre 1992, erschienen in der Zeitschrift Pädagogische Führung des Luchterhand-Verlags, habe ich bei Aufräumarbeiten entdeckt. Wenn es Einwände gegen die Veröffentlichung gibt, bitte ich um Nachricht.

Verfehlen die optimierten Ausbildungskonzepte systematisch Verantwortung und Persönlichkeit?

In „abgelegenen“ Sendereihen des Radios tauchen gelegentlich Themen auf, die in den Mittelpunkt der Diskussion gehörten, zumindest bei Psychologen. Es hat zumindest den Anschein, dass diese kaum noch Verteidiger der Persönlichkeit, des Subjekts etc. sind. In der Schul- und Arbeitsverwaltung scheinen sie sich den Optimierungskonzepten der Rationalisierer auszuliefern – oder es fehlen ihnen die Worte und Begriffe für das, was da geschieht. Gerade wer es mit der Verbessserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, mit verantwortlichem Umgang mit Mensch und Natur ernst meint, kommt um die Stärkung von Persönlichkeit und Individualität nicht herum. Die aber werden von modernen Ausbildungskonzepten systematisch untergraben, wie der Unternehmensberater Thilo Baum zeigt. Hier zum Nachhören.

Nicht zuletzt im Zusammenhang der Umsetzung der Inklusion, der kaum reflektierten Inklusionsverständnisse, die ihr zugrunde liegen, ist es interessant, sich mit den Optimierungskonzepten in verschiedenen Epochen zu befassen. Systematik und Reihenuntersuchungen faszinieren nicht selten Menschen mit Allmachtsgefühlen und Kontrollansprüchen, nicht selten mit eben dem Anspruch, die Welt verbessern zu wollen. Dahinter hat dann das konkrete Individuum zurückzutreten. Perfektheits- und Reinheitsforderungen, wie auch ihre zentral(istisch)e Umsetzung durch Politik und williger Wissenschaft können unterschiedliche Formen annehmen, wie eine Sendung im DLF zeigt.

 

Inklusion durch Sonderpädagogik?

Brigtte Schumann setzt sich weiter mit dem RTI-Konzept (Response to Intervention) auseinander. Hier zwei Zitate aus ihrem neuesten Artikel:

Anstatt sich zu fragen, mit welchen pädagogischen Maßnahmen die soziale Teilhabe aller Kinder gesichert werden kann, stellen Lehrerinnen und Lehrer die Mitgliedschaft von sog. Risikokindern im Klassenzimmer in Frage. Da die Interventionen als rigide durchgeführte Instruktionen in der Regel außerhalb des Klassenzimmers ablaufen, ist die Botschaft für alle Beteiligten klar: Der Klassenraum ist eine behindertenfreie Zone. Die Stufen innerhalb von RTI wirken so als Teile eines stigmatisierenden Etikettierungsprozesses, auch wenn es offiziell um präventive Förderung geht.

Inklusive Pädagogik misst Kinder nicht an einem Normalitätsverständnis, das vorschreibt, was Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt zu können haben. „Das Prinzip der grundlegenden humanen Anerkennung setzt das Konstrukt des schlechten Schülers außer Kraft“. „Jedes Kind ist auf seiner Stufe kompetent“, so Prengel. Sie begründet dies mit einem menschenrechtlich fundierten Heterogenitätsverständnis, das auf dem grundlegenden Prinzip der Gleichheit beruht. Dieses Verständnis ist für die inklusive Bildung konstitutiv. Es geht dabei um die Realisierung einer Gesellschaft, in der man nach der Formulierung von Adorno „ohne Angst verschieden sein“ kann.

Ein Thema, dass auch Psychologinnen und Psychologen interessieren könnte. Soll es darum gehen, Kinder und Jugendliche systematisch zu erfassen und sie ggfs. bei Erreichen bestimmter Grenzwerte einer Förderung per technischer Hilfsmittel zuzführen (um den technokratischen, unpersönlichen Jargon anzuwenden), sie einer Optimierungsforderung zu unterwerfen oder geht es um Erkennen und Verstehen ihrer Subjektivität und Persönlichkeit, ebenso wie ihrer Lebenszusammenhänge?

Beratung zwischen Subjektstärkung und Optimierungszwängen

Die Zeiten ändern sich – und mit ihr die Schulberatung, wie ich in meinem neuen Aufsatz Steuerung optimiert – Beratung und Subjekt tot? zu zeigen versuche. Obwohl es in vielerlei Hinsicht „aufs Subjekt ankommt“, soll es gemäß Standards funktionieren. Und mit ihr die Schulberatung. Zumindest mancherorts. Wachsamkeit ist angesagt.

Nicht nur Schule, sondern auch die ihr nachgelagerte Schulberatung steht unter Veränderungsdruck. So widersprüchlich, schlecht vorbereitet und umgesetzt die Reformen erscheinen mögen, verfolgen sie doch einen Zweck. Sie sind Stationen der Wende zur unternehmerischen Schule, die wie ein Betrieb geführt wird. Die »Employability« am Markt soll der Zweck von Schule sein, nicht der den Menschen »bildende« Prozess im Sinne von Verstehen und kritischer, eigenständiger Urteilsfähigkeit. Weiterlesen „Beratung zwischen Subjektstärkung und Optimierungszwängen“

Bildungsreform und Propaganda

Da ist Jochen Krautz mit „Bildungsreform und Propaganda“ mal wieder ein feiner Aufsatz gelungen, erschienen im Forum kritische Pädagogik. Er ist geeignet, die Dinge der Pädagogik und Bildungspolitik im besten Sinne aufzuklären. Wer die sogenannte Reformpolitik der letzten 15 Jahre verstehen will, weshalb sich nichts bessert und doch alles immer so weiter geht, sollte sich die Mühe machen und die 40 Seiten lesen. Die grundlegende These ist: Der Ökonomismus ist das Programm unterschiedlichster Organisationen, wie der OECD,  der Bertelsmann-Stiftung und anderer. Gezielt folgen sie einem Programm des ökonomischen Imperialismus, mal soft, mal hart. Oder anders ausgedrückt: Sie folgen einem Programm der Entdemokratisierung.

Gerade weil der Theorie der »Chicago School of Economics« keine Wirklichkeit entspricht,
dies nicht einmal beansprucht wird, kann sie nur mit kontrafaktischen Behauptungen
und durch Inszenierung in politische und ökonomische Wirklichkeit
überführt werden. (Vgl. Brodbeck 2010) Die Realität neoliberaler Theorie muss erst
hergestellt werden und sei es — wie Naomi Klein gezeigt hat — mit brutaler Gewalt.
(Vgl. Klein 2007) Gerade »die Theorie DES MARKTES ist nicht nur eine Theorie (angesiedelt im Diskursraum der Wissenschaft), sondern auch ein Propaganda-Ansatz,der die gesamte Kultur umkrempeln will.« (Ötsch 2009, S. 15)

Dabei knüpft die öffentliche Kommunikation der PISA-Ergebnisse gezielt an den Interessen
und Vorstellungen unterschiedlicher Gruppen an, die ihrerseits auf die neu
geschaffene Realität zugreifen, um eigene Interessen zu stützen. Ob pro oder contra
Gesamtschule, für oder gegen Sitzenbleiben, für individuelle Förderung oder
Klassenunterricht: Für und gegen alles Mögliche wurde und wird mit PISA argumentiert.
Dabei wird meist übersehen, welches reduktionistische Menschenbild man mit
der Bezugnahme auf PISA zugleich etablieren hilft, denn dieses hat jeder bereits akzeptiert,
der auch kontrovers über PISA diskutiert. (Vgl. Pongratz 2009, S. 114) Das
in Verfassungen und Richtlinien verankerte Verständnis vom Menschen als selbstbestimmter,
vernünftiger und dem Gemeinwohl verpflichteter Person wird so immer
weiter verdrängt.

Der Autor geht auch der Frage nach, welchen Sinn eine Absenkung des Bildungsniveaus haben könnte. Und weshalb mehr und mehr Widersprüche aufbrechen, die Ansätze für demokratisches Handeln liefern.   Selber lesen macht schlau.

Gute Beratung zwischen Hybris und Bescheidenheit

BeraterInnen über sich, ihre Arbeit und ihren Anspruch an Professionalität, herausgegeben von Helmut Hallier, im Leutner-Verlag, 2013

Ein Buch, welches einen anderen Blick ins Beratungsgeschehen ermöglicht. Einen Blick, jenseits der mehr oder weniger angepriesenen Trainings, Ausbildungen und wohlfeilen Selbstdarstellungen. Die Artikel sind wohltuend persönlich und selbstkritisch. Sie räumen mit der Vorstellung auf, gute Beratung sei durch Beherrschung von Techniken zu bewerkstelligen. Der angehende und der erfahrene  Berater erfährt, dass es wohl nicht zuletzt Ängste,  Scheiternserfahrungen, gekränkter Narzissmus sind, die – vermittelt über Stufen der Reflexion, für sich allein und mit anderen – ein Band zum Klienten, zum Ratsuchenden und zu erhellenden Schlussfolgerungen knüpfen können. Hier wird eine Grundlage der Empathie gelegt, die helfen kann, Verunsicherung, Scham und Angst zu überwinden. Diese Haltung ist geeignet, Integrität zu schaffen – und damit einen Gegenpol zu den verführerischen Versprechungen, die nicht selten in der Beratungsbranche zu hören sind. Mit den Artikeln dieses Buches wird es einem leichter gemacht, sich vorzustellen, was es mit dem Subjekt und der Subjektiviät auf sich haben könnte – bei sich selbst und bei anderen. Weiterlesen „Gute Beratung zwischen Hybris und Bescheidenheit“

Kompetenzorientierung und Individualisierung – Strategien der Macht?

Sind Kompetenzorientierung und Individualisierung nicht gut und wünschenswert? Sie sind es nicht von vornherein und umstandslos schreibt Andreas Hellgermann. Wird nicht nach ihren Inhalten und Zielen gefragt, erfüllen sie viele Merkmale der Herrschaftsausübung und Fremdbestimmung.

Nicht umsonst, so stellt Ehrenberg fest, ist die Depression das paradigmatische Krankheitsbild der Postmoderne. Wir müssen uns fragen, inwiefern wir in der Schule maßgeblich dazu beitragen, dieses »erschöpfte Selbst« bzw. den Menschentypus, der irgendwann einmal erschöpft sein wird, zu produzieren.

 

Die Homogenisierung der Welt

Was ist gesund und reif – und wer?

Die fünfte Version des DSM – Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – steht vor ihrer Veröffentlichung. Götz Eisenberg setzt sich kritisch mit dem DSM auseinander, welches nicht nur in der Psychiatrie  Wirkung entfaltet. Vielfach orientieren sich auch Psychologen und andere Beratungsberufe an diesem Konzept. Durchaus zu unrecht und jedenfalls mit problematischen Folgen. Hier ein kurzer Auszug aus seinem Kommentar:

Unter der befriedeten Oberfläche unseres Alltagslebens vollzieht sich ein permanenter Krieg, der umso beschwerlicher ist, als er sich nicht genau bestimmen lässt. In Form von Nervosität, Ärger und Gereiztheit werden wir vom Alltag pausenlos mobilisiert, aber für eine unsichtbare Schlacht und gegen einen Feind, der sich schwer ausmachen lässt. Herrschaft tarnt sich als Technik, Ausbeutung und Unterdrückung verstecken sich hinter Marktgesetzen und Sachzwängen. Wir haben es nicht mit einem einzelnen Gegner zu tun, sondern mit tausend undeutlichen Widrigkeiten, auf die unser Körper ganz von allein reagiert, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Unser Leben ist zugleich unruhig und monoton, wir sind erschöpft und gleichzeitig stößt uns nichts zu. Der Stress ist ein sprachloser Schmerz, der keine Geschichten macht und keine Ideen schenkt. Depressiv wird, hat Sloterdijk einmal gesagt, „wer Gewichte trägt, ohne zu wissen wozu.“

 

Soziales Leid in individuelles Scheitern und Krankheit verwandeln

Passend zum vorangehenden Beitrag schreibt Götz Eisenberg auf den Nachdenkseiten darüber, wie psychosoziale Helfer/innen dazu beitragen, soziale Konflikte zu individualisieren oder in individuelle Krankheit („Medizinisierung“) zu verwandeln. Stattdessen regt er dazu an, die „unbewusst-psychosomatische Revolte auf den „politischen Begriff“ zu bringen und in bewussten Widerstand zu transformieren“.

Ein Thema, das auch die Beschäftigten im Bildungsbereich angeht. Allerdings wird darüber kaum diskutiert und die Fach- und Berufsverbände schweigen überwiegend – ganz im Gegensatz zu den hohen Ansprüchen, die die Fachfrau und der Fachmann für die eigene Ethik in Anschlag bringt.