Wo stehen wir, wo steht ihr?

Wenn das möglich war, ist alles möglich

Michael Andrick findet Worte (»Bis heute ist da eine Scheu und eine dicht unter meinem Alltagsbewusstsein lauernde Beklemmung, eklig und tagdurchseuchend«), die auch mein Befinden wiedergeben. Wenn auch andere so empfinden, müsste es doch um die Frage gehen: Wie weitermachen? Können wir so weitermachen, als wäre nichts gewesen, als brauchten wir uns nur mal eben zu schütteln? Und dann auf zum nächsten Casus belli?

Wir Bürger müssen erst mal wieder lernen, angstfrei und ergebnisoffen zu diskutieren. Dann kommen die Ideen, wie wir unser Gemeinwesen wieder vertrauenswürdiger machen können, von ganz allein. Ich schreibe jetzt ein kurzes Buch über Spaltung und Versöhnung, um mitzuhelfen.

Warum tun wir etwas gegen alle Vernunft? Es ist die Angst

Harald Walach bespricht das Buch von Mattias Desmet: The Psychology of Totalitarianism“

In den letzten Jahren haben sich Gesellschaft und Menschen deutlich verändert. Die Art des Regierens hat sich gewandelt: Autoritäre Züge haben zugenommen, Meinungen im Parlament konvergieren, die Meinungsvielfalt in den öffentlich-rechtlichen und in den privaten Medien nimmt ab, der Wissenschaftsbetrieb richtet sich nach politischen Vorgaben, Evidenzbasiertheit wird behauptet, ohne dass sie ein durchgängiges Prinzip ist, im Gegenteil – offensichtliche methodische Fehler wurden und werden ignoriert und keineswegs aufgearbeitet.

Wer sich nicht dem mit Macht durchgesetzten einzig gültigen „Narrativ“ fügt, muss damit rechnen, ausgegrenzt und verächtlich gemacht zu werden und seines Arbeitsplatzes verlustig zu gehen. Nicht zuletzt im Bereich der Kultur werden kritische Stimmen regelrecht verfolgt und ausgemerzt – entgegengesetzt zu den unschuldigen Selbstbeschreibungen, man lebe in einer freien und demokratischen Gesellschaft, die man offensichtlich zu verteidigen scheint, indem man sie zerstört. Gesundheitliche Schäden oder Gefährdungen, ebensolche psychosozialer Art werden achselzuckend hingenommen. Die eigene wirtschaftliche Handlungsfähigkeit und Kriegs- und Vernichtungsrisiken werden in Kauf genommen – für welche Hoffnung auf was? Wie ist es möglich, dass Menschen das hinnehmen, dabei mitmachen, es gar bejubeln?

Solche Fragen haben sich natürlich in der Vergangenheit immer wieder gestellt, zumal in Deutschland. Und vermutlich nach jedem solchen Ereignis und den sich anschließenden Lehren, beispielsweise die Weltkriege 1 und 2, konnte man hören und lesen, dass es doch jetzt nun wirklich genug sein müsse. Und nun stehen wir wieder an der Schwelle zur – und tatsächlich sind wir wohl schon auf dem Terrain der – Irrationalität, der Inhumanität und Menschenverachtung. Also: was bringt Menschen dazu, geschichtsvergessen zu sein, sich für die Unterwerfung, für die Anti-Demokratie, fürs Verächtlichmachen zu entscheiden?

Nicht wenige Autorinnen und Autoren haben sich mit diesen Fragen beschäftigt: Hannah Arendt, Sigmund Freud, Gustave leBon, Adorno und Horkheimer, Arno Gruen, Erich Fromm, Hans-Joachim Maaz, Harald Welzer, Vàclav Havel fallen mir auf die Schnelle ein.
Einen neuen vielversprechenden Beitrag zum Thema scheint Mattias Desmet zu liefern. Hier gibt es eine ausführliche Besprechung des Buches von Harald Walach (mit eigenen Forschungsergebnissen und Forschungsempfehlungen).

Corona und Schule: Keine Bitte um Entschuldigung. Keine Aufarbeitung

Eine mangelhafte Fehlerkultur, ein keineswegs vorbildliches Verhalten muss man den Politikern, zu denen auch Politikerinnen gehören, und den Spitzen der Schulbehörden bei den Pandemiemaßnahmen vorwerfen. Vor allem der „Debattenstil“ (herrschaftlich, imperial, machtorientiert) entbehrt(e) jeden humanen und demokratischen Geistes. Damit wurden und werden Schäden an der Bildung der Menschen verursacht. Dieses alles soll dem Vergessen anheimfallen – ein weiterer schwerer Schaden für die Kultur, die allerdings gerade dabei ist, gecancelt zu werden.

Sehr verdienstvoll, dass im Philosophie-Magazin, dieses Problem aufgegriffen wird.

Die politische Bildung muss die Aufarbeitung aus den Kommentarspalten der a-sozialen Medien in die Mitte eines zivilisierten Unterrichtsgesprächs holen. Schüler könnten bei einer solchen Aufarbeitung sehen, was Mündigkeit und kritisches Denken im echten Leben abverlangen, dass sie zwar schön klingende Worte in Schulbüchern sind, im Zweifel aber Mut erfordern und Überwindung kosten. Generation „Corona“ könnte dann auch erkennen, dass sie wegen klaffender Bildungslücken und einer Zunahme schulpsychologischer Beutreuungsfälle nicht sich selbst, sondern das System der Schulschließungen in Frage stellen darf.

Diese Aufarbeitung müsste auch in den schulpsychologischen Diensten, in den Verbänden der Schulpsychologie, in den Gewerkschaften und in den Schülervertretungen stattfinden.

Bildung und Kultur als Steinbruch für Kürzungsmaßnahmen

Das ist ein Schock. Empörend, verstörend – es verschlägt einem die Sprache. Aber das ist in diesen Zeitenwende-Zeiten nichts Neues mehr. Das Goethe-Institut in Toulouse wird geschlossen.

Gern wird in Politik und Medien von der Unverbrüchlichkeit einer deutsch-französischen Freundschaft gesprochen. Selbst wenn man mit weniger Pathos von Zusammenarbeit (statt Freundschaft) spricht, wie Franzosen es häufiger tun als Deutsche, wird man sagen müssen, dass viel Unwissen und Vorurteil in beiden Gesellschaften und Kulturen vorhanden ist. Und alte Feindseligkeiten leicht mobilisierbar sind. Ein imperialer Anspruch Deutschlands wird nach meinem Eindruck von vielen Franzosen angenommen. Soll man sich mit den östlichen Nachbarn gutstellen und sich anpassen oder sich ihnen verweigern? Wie auch immer – wohl ist den Franzosen seit 1990 nicht unbedingt.

Begegnung, Austausch, Verständigung, Sprachkenntnisse sind wichtige Voraussetzungen für ein Zusammenleben in guter Nachbarschaft. Freundschaft, um diesen gern benutzten Begriff noch einmal aufzunehmen, will gepflegt sein. Sonst zerfällt sie und verkehrt sich womöglich. Und was macht die Bundesregierung? Sie schließt das Goethe-Institut in Toulouse!

Und ebenso deprimierend: In den Medien und ihren Feuilletons findet sich davon (fast) nichts. Nur im „Deutschlandfunk Kultur“ gibt es den einen oder anderen Bericht. Gibt man „Toulouse“ oder „Goethe-Institut Toulouse“ findet man jede Menge über den Wechsel eines Fußballers von Toulouse nach Mönchengladbach. Wenn das keine Kultur ist.

Hier aber denn doch Stimmen von Betroffenen.

Die Frage bleibt: Wohin führt die Politik diese Republik?

Beziehung statt Maschinenhaftigkeit

In einem längeren Interview äußert sich der Psychoneuroimmunologe Christian Schubert zum Selbstverständnis der Medizin und der Psychologie. Seine Kritik der Effizienzgesellschaft gilt nicht allein ihren Wirkungen auf die Gesundheit und auf das Gesundheitssystem. Man kann sie meines Erachtens auch auf das Schul- und Bildungssystem beziehen.

»Wirkliche Aufklärung haben wir in den letzten Jahrhunderten viel zu wenig betrieben, sonst wäre es wahrscheinlich auch nicht zu dieser Entmenschlichung und Entfremdung durch den Kapitalismus und die Industrialisierung gekommen. Und es wäre möglicherweise nicht zu den immer wiederkehrenden Kriegen des letzten Jahrhunderts gekommen, sondern zumindest zu einer ganzheitlicheren Aufarbeitung der schrecklichen Geschehnisse. Aber die hat ganz klar gefehlt. Letzten Endes wurde wieder die Ratio und die kühle Mechanisierung bedient, das konnte man gut an den Trümmerfrauen erkennen.«

Selbst wenn man der Schule eine größere Nähe zum Menschen und seiner „Beziehungshaftigkeit“ zubilligen möchte als man das für die Gesundheit tut, kann sie (die Schule) sich nicht ihrer dienenden Rolle für die von Schubert kritisierte Effizienzgesellschaft entziehen. Der von Schubert vorgeschlagene „kritische Blick“ ist für Schule und Bildung vonnöten, wie auch für das Gesundheittssystem. Gesundheit und Lernen sind nicht zuletzt Kulturfragen.

Das Interview regt zu einer Reflexion schulischer und schulpsychologischer Selbstverständnisse an – und zu einer Reflexion der Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten, die wir haben.

Versorgungsempfänger als Sparschweine

Von irgendwem muss das Geld ja kommen

sagten sich Hamburger Finanzbehörde und Bürgerschaft. Und kappten den Beamtinnen und auch den Beamten die Teilhabe an Einkommenszuwächsen.

»… werden die Ruhestandsbezüge real gekürzt. Hier zeigt sich der Hamburger Senat nicht als zuverlässiger Dienstherr. Die Schere zwischen Ruhestand und aktivem Dienst darf nicht noch größer werden.«

Das Überraschende: trotz großer Hitze und altersbedingt nachlassender Frische nahmen einige hundert Menschen an der Demo teil. Die Empörung und wohl auch der Schrecken über die kaltschnäuzige Behandlung durch die Obrigkeit waren deutlich zu spüren.

Entwicklungswege der Psychologie

Das Journal für Psychologie sucht aus Anlass seines 30 jährigen Bestehens das Gespräch mit Psychologen und Psychologinnen. Sechs Gespräche sind wiedergegeben. Das ist interessant und regt zu Fragen an: Was kann die Psychologie leisten? Was ignoriert sie? Wie sozialisiert und lenkt die Studienordnung Selbstverständnisse und Praxen?

… dass das Unbehagen an der Psychologie in dieser Zentrierung auf das Individuell-Psychische begründet ist und dass dann nur über nachträgliche Konstruktionen theoretisch völlig unbestimmt bleibende Größen wie »Kultur« oder »Gesellschaft« irgendwie eingeführt werden. Aber worin genau ist dieses Unbehagen begründet? Zunächst wohl einmal darin, dass dabei implizit behauptet wird, dass das, was zwischen zwei oder mehreren Menschen abläuft, im Grunde nicht etwas Psychisches, sondern etwas – was immer das dann sein soll – Soziales ist. …

Dass wir unsere begrifflichen Erkenntniswerkzeuge auch zu Erkenntnisgegenständen machen, wie es Bourdieu (1997) einmal gesagt hat, das heißt, dass wir uns die mit ihnen verbundenen Setzungen und Grenzen vergegenwärtigen müssen – dieses Basisverständnis für die Notwendigkeit metatheoretischer Arbeit oder von Arbeit am Begriff, das fehlt dem Hauptstrom der Psychologie fast völlig. Er ist viel zu schnell mit seinen Begriffen fertig,

https://journal-fuer-psychologie.de/article/view/0942-2285-2022-1-6/html

Und Harald Welzer kommt ganz unverstellt daher:

»Scheiße machen wir nicht.« Und das ist, so wenig operationalisierbar es ist, ein absolut gutes Motto. Ich habe mir viel unnütze Arbeit erspart, indem ich irgendwann gesagt habe: »Scheiße machen wir nicht!« Punkt, Ende, aus.

https://journal-fuer-psychologie.de/article/view/0942-2285-2022-1-111/html

Der innere Ort, von dem aus „ich“ handele – die Welt, auf die „ich“ mich beziehe. Leben in der Wahrheit und/oder in Lüge (frei nach Václav Havel)


Der Begriff vom inneren Ort, von dem aus ich berate und mich in die Welt einmische – gewissermaßen mein Rückzugsort und Startplatz, war für mich hilfreich, Standpunkt und Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Er hat sich für mich als nützlich erwiesen, um die Koordinaten meines Handelns in der Innen- und Außenwelt zu bestimmen.


Verloren gegangene Koordinaten und Normen


In den letzten Jahren, so scheint es mir, ist es schwerer geworden, den Ort, von dem aus (jeweils) ich handele, zu bestimmen. In den vergangenen Jahren ist etwas geschehen, was offensichtlich die Koordinaten durcheinandergebracht hat. Bezugsgrößen und Wahrheiten haben sich in einem Maße verändert, so dass viele Menschen sich in ihren Welten nicht zurechtfinden, etwas ist ins Rutschen geraten. Wo ist das Subjekt oder wo sind die Subjekte dieser Veränderung?

Kontrolle und Repression (und die Angst vor ihnen) sind schon fast normaler Bestandteil des Lebens. Normen und Regeln wurden neu gesetzt, mit mehr oder weniger großer Zustimmung, der gesellschaftliche Friede ist in Frage gestellt, von wachsender Spaltung und Aggression ist die Rede. Was heißt das für unser Zusammenleben, für die Art und Weise, wie wir unseren Beruf ausüben – wie berührt uns das existenziell?
Zumindest einige Anregungen zur Beantwortung dieser Fragen fand ich bei Václav Havel. Es war das multipolar-magazin das seinen Essay, Versuch in der Wahrheit zu leben ausgegraben hatte. Ich werde darauf im weiteren Verlauf zurückkommen. Zudem scheint mir der Titel Havels ein guter Bezugspunkt für die Gegenwartsfragen, mit denen wir uns herumschlagen.

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Selbstermächtigung mit moralischer Erbauung

Frau Faeser, Bundesministerin des Innern und für Heimat, wird sich auch um die Kinder kümmern. Sie will deren Resilienz stärken, sie widerstandsfähig gegen Extremismus zu machen. Wie man feststellen kann, wird das weniger mit Pädagogik zu tun haben als mit Drohung, Ausgrenzung und, na ja, sagen wir mal: Informationsverengung.

Man kann in der jüngeren Zeitgeschichte einen Hang zur „Selbstermächtigung“ feststellen. Der Zweck: Weltenrettung. Es geht um nichts Geringeres als das große Ganze. Eine pädagogische Aufgabe großer Reichweite

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